Nichtzulassung der Berufung im Baunachbarrecht verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 07. Juli 2021 zum Aktenzeichen 1 BvR 2356/19 entschieden, dass die Nichtzulassung der Berufung in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren aus dem Bereich des Baunachbarrechts verfassungswidrig ist.

Der Beschwerdeführer zu 1) betreibt in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, der Beschwerdeführerin zu 2), ein Autohaus auf dem in ihrem Eigentum stehenden Flurstück Nr. X. Für das daran angrenzende Vorhabengrundstück beantragte die im Ausgangsverfahren Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau eines Wohnheims für Flüchtlinge als Gemeinschaftsunterkunft. Ein Bebauungsplan setzt für beide Grundstücke ein Gewerbegebiet fest, in dem Anlagen für soziale Zwecke ausnahmsweise zulässig sind. Der Beschwerdeführer zu 1) wurde im Baugenehmigungsverfahren nach § 55 Abs. 1 Landesbauordnung Baden-Württemberg (LBO) als Angrenzer von dem Vorhaben benachrichtigt. Daraufhin erklärte der Vater des Beschwerdeführers zu 1), Herr K…, dreimal zur Niederschrift bei der Stadt Einwendungen gegen das Bauvorhaben und unterzeichnete jeweils eine Unterschriftenzeile „Herr K…, Eigentümer Flst.Nr. X“. Er legte außerdem bei der zweiten Vorsprache eine von dem Beschwerdeführer zu 1) erteilte Vollmacht vor, in der er ermächtigt wurde, die rechtlichen Interessen des Beschwerdeführers zu 1) im Baugenehmigungsverfahren zu vertreten. Die Baurechtsbehörde wies die Einwendungen der Angrenzer in der Sache zurück und genehmigte unter Erteilung einer Befreiung nach § 246 Abs. 10 Baugesetzbuch (BauGB) die Errichtung eines Wohnheims für Flüchtlinge als Gemeinschaftsunterkunft.

Nach erfolgloser Durchführung eines Widerspruchs- und vorläufigen Rechtschutzverfahrens wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Die Beschwerdeführer seien mit ihren Einwendungen nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO präkludiert.

Dagegen wandten sich die Beschwerdeführer mit einem Antrag auf Zulassung der Berufung. Sie machten unter anderem geltend, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils hinsichtlich der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass ihr Vorbringen präkludiert und das Vorhaben rechtmäßig sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat den Berufungszulassungsantrag abgelehnt. Es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der vom Verwaltungsgericht angenommenen Präklusion. Das Verwaltungsgericht habe zu Recht eine Zurechnung der vom Vater des Beschwerdeführers zu 1) erhobenen Einwendungen an die Beschwerdeführer verneint. Dies liege hinsichtlich der Beschwerdeführerin zu 2), die als Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach außen rechtsfähig sei und damit ein selbständiges Rechtssubjekt darstelle, offen zu Tage. Für den Beschwerdeführer zu 1) gelte im Ergebnis nichts Anderes. Er habe seinen Vater, Herrn K…, zwar am 21. September 2016 bevollmächtigt, in der Angelegenheit seine rechtlichen Interessen zu vertreten, wovon die Stadt auch Kenntnis gehabt habe. Aus den Einwendungsschreiben des Herrn K… gehe jedoch nicht hervor, dass diese nicht in eigenem Namen, sondern im Namen des Beschwerdeführers zu 1) erhoben werden sollten. Der Senat sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass der zuständigen Mitarbeiterin der Gemeinde bewusst gewesen sei, dass Herr K… entgegen dessen in der Niederschrift festgehaltenen Angaben nicht Eigentümer des Grundstücks sei. Auch der Vollmacht könne dafür nichts entnommen werden. Die Frage könne jedoch letztlich dahinstehen. Die im Baugenehmigungsverfahren erhobenen Einwendungen eines Dritten seien gemäß §§ 133, 157 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont auszulegen. Empfänger der Einwendungen sei hier nicht die Gemeinde, sondern die Baurechtsbehörde, die über die erhobenen Einwendungen zu befinden habe. Die Gemeinde fungiere lediglich als Empfangsbotin. Der für die Erteilung der Baugenehmigung zuständige Mitarbeiter der Baurechtsbehörde habe die Schreiben aber aufgrund ihres eindeutigen Inhalts nur so verstehen können, dass Herr K… nicht in fremdem, sondern in eigenem Namen gehandelt habe.

Die Beschwerdeführer sehen sich durch den ihren Berufungszulassungsantrag ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 25. Juni 2019 in ihren Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

Der Beschwerdeführer zu 1) ist durch die Ablehnung seines Antrags auf Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zugleich in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt.

Zwar begegnet es keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn das Berufungsgericht bei der Überprüfung des angefochtenen Urteils auf ernstliche Zweifel an seiner Richtigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) auf andere rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte abstellt als das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils und wenn es – soweit rechtliches Gehör gewährt ist – die Zulassung der Berufung deshalb ablehnt, weil sich das Urteil aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweist. Es widerspricht jedoch sowohl dem Sinn und Zweck des dem Berufungsverfahren vorgeschalteten Zulassungsverfahrens als auch der Systematik der in § 124 Abs. 2 VwGO geregelten Zulassungsgründe und kann den Zugang zur Berufung in sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise einschränken, wenn das Berufungsgericht auf andere entscheidungstragende Gründe abstellt als das Verwaltungsgericht, die nicht ohne Weiteres auf der Hand liegen und deren Heranziehung deshalb über den mit Blick auf den eingeschränkten Zweck des Zulassungsverfahrens von ihm vernünftigerweise zu leistenden Prüfungsumfang hinausgeht.

So liegt es hier. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit seinem entscheidungstragenden Begründungsansatz, dass es für die Auslegung der Einwendungserklärungen im Angrenzerbenachrichtigungsverfahren allein auf den Empfängerhorizont der Baurechtsbehörde ankomme, da die Stadt, bei der die Einwendungen nach § 55 Abs. 2 Satz 1 LBO zu erklären seien, nur Empfangsbotin sei, eine nicht ohne Weiteres auf der Hand liegende Rechtsauffassung vertreten. Die Stellung der Gemeinde im Angrenzerbenachrichtigungsverfahren im Verhältnis zur Baurechtsbehörde und die Frage, inwiefern der Baurechtsbehörde das Wissen der Gemeinde zugerechnet werden kann, sind in Literatur und Rechtsprechung bislang weder vertieft diskutiert noch einhellig geklärt; ihre Beantwortung erschließt sich auch nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Die Klärung dieser Fragen ist daher dem Berufungsverfahren vorbehalten.

Im Übrigen ist der Beschwerdeführer zu 1) auch deshalb in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt, weil der Verwaltungsgerichtshof die Anforderungen an das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der vom Verwaltungsgericht vertretenen Rechtsauffassung willkürlich überspannt hat.

Mit dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes unvereinbar ist eine Auslegung und Anwendung des § 124 Abs. 2 VwGO, wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv willkürlich erweist und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar erschwert. Die Voraussetzungen des Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit eines verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind erfüllt, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt. Das hat der Verwaltungsgerichtshof in sachlich nicht mehr vertretbarer Weise verneint.

Das Verwaltungsgericht hatte darauf abgestellt, dass in den Einwendungserklärungen des Vaters des Beschwerdeführers zu 1) sein Wille, in fremdem Namen zu handeln, nicht erkennbar gewesen sei, da er das Autohaus auf dem Angrenzergrundstück als „seinen Betrieb“ bezeichnet und die Erklärungen als vorgeblicher Eigentümer des Angrenzergrundstücks unterzeichnet habe. Die Richtigkeit dieser Argumentation hat der Beschwerdeführer zu 1) im Berufungszulassungsantrag allerdings substantiiert in Frage gestellt. Er hat darauf hingewiesen, dass die Mitarbeiterin der Gemeinde auch die Angrenzerbenachrichtigungen an die Eigentümer der dem Vorhaben benachbarten Grundstücke verschickt und daher gewusst habe, dass nicht Herr K…, sondern der Beschwerdeführer zu 1) Eigentümer sei. Er hat zudem vorgetragen, dass Herr K… auf ausdrückliche Aufforderung der Mitarbeiterin der Gemeinde dieser eine vom Beschwerdeführer zu 1) erteilte Vollmacht zu dessen Vertretung in den Angelegenheiten des Baugenehmigungsverfahrens vorgelegt habe. Danach erscheint die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils seien nicht ersichtlich, da sich dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu 1) keine Anhaltspunkte für eine Kenntnis der Mitarbeiterin der Gemeinde über die fehlende Eigentümerstellung des Herrn K… und dessen Wille, in fremdem Namen zu handeln, entnehmen ließen, sachlich nicht mehr vertretbar.