OLG Stuttgart: Negative Google-Bewertung einer Kanzlei als zulässige Meinungsäußerung

23. Oktober 2025 -

Ein ehemaliger Mandant hat eine Anwaltskanzlei bei Google mit nur einem von fünf Sternen bewertet und seinen Frust deutlich zum Ausdruck gebracht. Er schrieb unter anderem: „Absolut enttäuschende Erfahrung!“. Die betroffene Kanzlei klagte daraufhin vor dem Landgericht (LG) Tübingen auf Löschung der Bewertung, gestützt auf § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog i.V.m. Art. 12 GG sowie das allgemeine Unternehmenspersönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Das LG gab der Klage zunächst teilweise statt und untersagte einige der schärfsten Äußerungen. Doch nun hat das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart die Berufung des Mandanten vollumfänglich Erfolg haben lassen: Die gesamte negative Rezension darf online stehenbleiben. Das Urteil (Urt. v. 29.09.2025, Az. 4 U 191/25) bestätigt, dass in solchen Fällen die Meinungsfreiheit des Bewertenden überwiegt.

Hintergrund: Ein-Stern-Bewertung mit harscher Kritik

Der Mandant hatte die mittelständische Kanzlei im Februar 2023 in einer arbeitsrechtlichen Angelegenheit mandatiert. Wenige Wochen später beendete er das Mandat enttäuscht und veröffentlichte im September 2023 eine ausführliche Google-Rezension mit einem Stern. Darin monierte er die Kanzleileistung in drastischen Worten. Zu den beanstandeten Aussagen gehörten insbesondere:

  • „Ich wurde über den Stand meines Falles völlig im Unklaren gelassen.“
  • „Mein Anwalt war auch konsequent unvorbereitet auf unsere Treffen.“
  • „Es war offensichtlich, dass keine wirklichen rechtlichen Nachforschungen angestellt wurden, um meinen Fall zu unterstützen, da sie es versäumten, wichtige Beweise zu sammeln, die meiner Situation sehr geholfen hätten.“
  • „Ich musste sie an wichtige Termine und Fristen erinnern.“
  • „Sie haben wichtige Aspekte des Arbeitsrechts falsch interpretiert und mir falsche Ratschläge gegeben, die meinen gesamten Fall hätten gefährden können, wenn ich sie befolgt hätte.“

Die Kanzlei sah in diesen Äußerungen unwahre Tatsachenbehauptungen bzw. unzulässige Schmähkritik und begehrte Unterlassung. Das LG Tübingen stufte die oben zitierten Teile der Bewertung zunächst tatsächlich als geschäftsschädigende Aussagen ein und untersagte dem Ex-Mandanten, diese weiter zu verbreiten. Insbesondere wurde die Kanzlei in ihrem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb verletzt gesehen, da solche Aussagen potentielle Mandanten abschrecken könnten.

OLG Stuttgart: Meinungsfreiheit überwiegt im Gesamtbild

Das OLG Stuttgart hob dieses erstinstanzliche Urteil jedoch auf und wies die Klage der Kanzlei vollständig ab. Nach Auffassung des 4. Zivilsenats handelt es sich bei sämtlichen angegriffenen Äußerungen der Rezension um zulässige Meinungsäußerungen, nicht um objektive Tatsachenbehauptungen. Zwar liege durch die negative Online-Bewertung ein Eingriff in die Rechte der Kanzlei (insbesondere Unternehmenspersönlichkeitsrecht und Sozialsphäre) vor, dieser Eingriff sei aber nicht rechtswidrig, da hier die Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG in einer Abwägung überwiegt.

Entscheidend war für das Gericht, alle Äußerungen im Kontext der gesamten Bewertung zu würdigen und dabei die Kriterien der Rechtsprechung zu Meinung vs. Tatsache anzuwenden. Der Begriff der Meinung sei weit zu verstehen; er umfasse Werturteile, die durch Elemente des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sind. Eine Aussage, die sowohl tatsächliche Elemente als auch wertende Bestandteile aufweise, gilt als Werturteil, wenn die wertende Tendenz überwiegt. So sah das OLG hier jede der beanstandeten Aussagen als Werturteil an, selbst wenn einzelne Tatsachenelemente enthalten waren:

  • Die Klageäußerung, man sei „völlig im Unklaren“ gelassen worden, drücke eine subjektive Unzufriedenheit über fehlende Information aus – ein objektiver Beweis hierfür ist nicht möglich. Es werde letztlich lediglich ein Unterlassen einer (aus Sicht des Mandanten) erwarteten Handlung
  • Die Einschätzung, der Anwalt sei „konsequent unvorbereitet“ gewesen, ist laut OLG ebenfalls ein Werturteil. Ob jemand gut oder schlecht vorbereitet zu Terminen erscheint, entzieht sich einer klaren Beweisführung; es handelt sich um die persönliche Wahrnehmung des Mandanten.
  • Auch die Vorwürfe fehlender Nachforschungen, unterlassener Beweissicherung sowie falscher Rechtsratschläge sind im Gesamtzusammenhang als subjektive Bewertung der Arbeitsqualität zu verstehen. Der Mandant bringt damit zum Ausdruck, dass er glaubt, die Kanzlei habe nicht alle Möglichkeiten zu seinen Gunsten ausgeschöpft.
  • Selbst die Aussage, er habe die Kanzlei „an wichtige Termine und Fristen erinnern“ müssen, sei kein nachprüfbarer Vorgang in dem Sinne, dass hier eine Pflichtverletzung objektiv feststünde. Zwar steckt darin ein tatsächliches Element (nämlich dass der Mandant an eine Frist erinnert hat), doch das „erinnern müssen“ ist wiederum als wertende Zuspitzung zu verstehen.

Keine der Äußerungen erreichte nach Ansicht des Senats die Qualität einer Formalbeleidigung oder Schmähkritik. Schmähkritik liegt nur vor, wenn die Herabsetzung der Person (hier: der Kanzlei bzw. ihres Anwalts) völlig im Vordergrund steht und jeglicher Sachbezug in den Hintergrund gedrängt wird. Trotz der scharfen Formulierungen hatte die Kritik des Mandanten aber stets einen sachlichen Kern, nämlich die Unzufriedenheit mit der anwaltlichen Dienstleistung im konkreten Fall. Die persönliche Kränkung oder Diffamierung der Kanzlei war nicht Selbstzweck, sondern Resultat der (negativen) Auseinandersetzung mit der Leistung. Daher mussten die Äußerungen als zulässige Kritik an der beruflichen Leistung der Kanzlei eingeordnet werden.

Gericht fand tatsächliche Anhaltspunkte für die Kritik

Ein wichtiger Aspekt in der Abwägung war, dass die geäußerte Kritik des Mandanten nicht aus der Luft gegriffen war, sondern einige tatsächliche Anhaltspunkte im Mandatsverlauf hatte. Der Senat betonte zwar, dass Meinungsäußerungen grundsätzlich auch unbegründet geäußert werden dürfen – der Äußernde muss keine „Beweise“ für seine Meinung liefern. Völlig grundlose und willkürliche Anschuldigungen könnten aber im Einzelfall rechtswidrig sein. Im konkreten Fall ergab die Analyse des E-Mail-Verkehrs und der Umstände jedoch, dass der Mandant durchaus Erlebnisse hatte, die seine harsche Beurteilung zumindest nachvollziehbar machen:

  • Mangelnde Information: Aus der Korrespondenz ging hervor, dass der Anwalt der Kanzlei teils verzögert auf Nachfragen reagierte. So erhielt der Mandant etwa erst eine Woche später eine Antwort zum Stand eines wichtigen Formulars (Anhörungsfragebogen der Behörde) – dies konnte ihm den Eindruck vermitteln, er werde „im Unklaren“ über den Fortgang gelassen.
  • Vorbereitung & Recherche: Der Mandant hatte den Anwalt z.B. selbst auf einen besonderen Kündigungsschutz nach § 18 BEEG (Elternzeit) hingewiesen. In der gerichtlichen Beweisaufnahme stellte sich heraus, dass dieser Punkt vom Anwalt zunächst nicht aktiv berücksichtigt oder angesprochen wurde. Ebenso wurde bemängelt, dass der Anwalt in der Stellungnahme an eine Behörde den Umstand einer Unterstützung durch den Betriebsrat des Mandanten nicht erwähnte – auch dies ein Aspekt, der aus Mandantensicht durchaus relevant schien. Der OLG-Senat wertete diese Versäumnisse als reale Anknüpfungstatsachen, die den Vorwurf fehlender Sorgfalt zumindest erklären.
  • Fristenwahrung: Tatsächlich hatte der Mandant kurz vor Ablauf einer behördlichen Frist (KVJS-Frist zur Stellungnahme im Kündigungsverfahren) von sich aus beim Anwalt nachgefragt, ob die Erwiderung rechtzeitig rausgehe. Erst daraufhin erhielt er den Entwurf zur Durchsicht. Auch wenn objektiv keine Frist versäumt wurde (die Frist war verlängert worden), konnte der Mandant subjektiv das Gefühl haben, er müsse an die Dringlichkeit erinnern. Das OLG wertete dies als ausreichenden Sachbezug für die Aussage, er „musste an wichtige Fristen erinnern“.

Unterm Strich war die Kernleistung der Kanzlei – Kommunikation, Vorbereitung, rechtliche Einschätzung und Terminkontrolle – Gegenstand der Kritik. Diese betreffe die Kanzlei in ihrer Sozialsphäre (Außenwirkung im Geschäftsleben) und nicht etwa in der Privat- oder Intimsphäre, was die Eingriffsintensität abmildert. Der durchschnittliche Leser der Rezension erkenne zudem, dass hier ein juristischer Laie seinen Unmut äußert und keine objektive Instanz (wie z.B. eine Anwaltskammer) ein Qualitätsurteil abgibt. Gerade weil Laienbewertung und offenkundige Verärgerung vorliegen, wird ein solcher Beitrag anders eingeordnet: als subjektive Erfahrungsschilderung, die zwar hart formuliert sein mag, aber nicht den Anspruch absoluter Wahrheit erhebt.

Keine Schmähkritik – scharfe Online-Kritik ist hinzunehmen

Der OLG-Senat kam nach alledem zu dem Ergebnis, dass das Recht der Kanzlei auf Schutz ihrer Reputation nicht gegenüber der freien Meinungsäußerung des Mandanten überwiegt. Weder handele es sich um eine persönliche Diffamierung ohne Sachbezug noch um formelle Beleidigungen, sondern um eine (überspitzte) sachbezogene Kritik an einer Dienstleistung. In einer solchen Konstellation gebietet die Rechtsordnung – auch im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – einen Vorrang der Meinungsfreiheit.

Das Gericht betonte ausdrücklich die hohe Wertigkeit von Kritik in einer freien demokratischen Grundordnung. „Auch und gerade Kritik soll ausgesprochen werden dürfen, sogar ohne dass diese belegt werden muss“, zitiert das Urteil. Selbst pointierte, emotional formulierte oder „überzogene“ Kritik fällt grundsätzlich unter den Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG. In Zeiten „heutiger Reizüberflutung aller Art“ – so das Gericht – seien einprägsame und scharfe Formulierungen eher die Regel als die Ausnahme und deshalb hinzunehmen. Kurz gesagt: Solange eine Äußerung nicht zur reinen Schmähung verkommt, dürfen Unternehmen (und gerade auch Anwaltskanzleien) sich kritisieren lassen, auch wenn es weh tut.

Die Revision zum Bundesgerichtshof wurde im Übrigen nicht zugelassen. Das OLG-Urteil ist damit rechtskräftig.

Einordnung und Praxistipps für Anwälte

Die Stuttgarter Entscheidung steht im Einklang mit einer Tendenz in der obergerichtlichen Rechtsprechung, kritische Online-Bewertungen großzügig als Meinungsäußerungen zu behandeln. So hatte z.B. bereits das OLG Bamberg 2024 entschieden, dass die öffentliche Bezeichnung eines Rechtsanwalts als „nicht besonders fähig“ keine Schmähkritik darstellt, sondern von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Auch das OLG Oldenburg ließ eine negative Kanzlei-Bewertung durch einen Nicht-Mandanten stehen – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Verfasser offenlegt, kein Mandatsverhältnis gehabt zu haben.

Für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte bedeutet das aktuelle Urteil des OLG Stuttgart, dass juristische Gegenmaßnahmen gegen enttäuschte Mandantenbewertungen nur in engen Ausnahmefällen Erfolg versprechen. Im Lichte der Rechtsprechung sollten folgende Punkte beachtet werden:

  • Meinung vs. Tatsache prüfen: Bevor man rechtlich gegen eine negative Bewertung vorgeht, ist sorgfältig zu analysieren, ob darin überhaupt falsche Tatsachenbehauptungen stehen oder ob es sich (überwiegend) um Werturteile handelt. Subjektive Meinungen – selbst wenn sie überspitzt und ungerecht erscheinen – genießen in aller Regel den Schutz des Art. 5 GG. Nur konkret nachweislich falsche Tatsachendarstellungen (etwa erfundene Vorgänge) oder grobe Beleidigungen bieten eine Angriffsfläche für eine Löschung.
  • Schmähkritik-Hürde: Auch scharfe Äußerungen sind zulässig, solange ein Sachbezug erkennbar bleibt. Die Schwelle zur unzulässigen Schmähkritik ist hoch: Eine Aussage muss praktisch jedweden inhaltlichen Kern vermissen lassen und bloß der persönlichen Herabwürdigung dienen, um als Schmähung zu gelten. Im Zweifel gehen die Gerichte eher von zulässiger Kritik aus („im Zweifel für die Meinungsfreiheit“).
  • Tatsächliche Anhaltspunkte bedenken: Selbst wenn eine Bewertung überzogen klingt, sollte man hinterfragen, ob der Mandant irgendeinen realen Anlass für seine Kritik hatte. Kleine Versäumnisse oder Missverständnisse können aus Mandantensicht große Enttäuschungen auslösen. Gerichte gestehen frustrierten Kunden erfahrungsgemäß eine gewisse Übertreibung und zugespitzte Darstellung zu, solange ein wahrer Kern vorhanden ist.
  • Umgang mit schlechten Bewertungen: Anstatt vorschnell zur Klage zu greifen, ist oft klüger, professionell mit der Kritik umzugehen. Eine sachliche Antwort auf der Plattform, in der man etwa Bedauern ausdrückt und Missverständnisse klarstellt, kann reputationsschonender sein. Zudem sollte man zufriedene Mandanten um positive Bewertungen bitten, um das Gesamtbild aufzubessern. Juristische Schritte (Abmahnung, Klage) gegen Bewertende sollten wirklich nur erwogen werden, wenn klare Lügen oder Beleidigungen im Raum stehen – und auch dann ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis kritisch zu prüfen (Stichwort Streisand-Effekt).

Dieses Urteil erinnert daran, dass Anwälte – wie alle Dienstleister – in der digitalen Welt mit öffentlichem Feedback leben müssen. Kritik auszuhalten gehört gewissermaßen zum „Berufsrisiko“, solange der Kritiker nicht bewusst die Unwahrheit sagt. Die Meinungsfreiheit schützt auch unbequeme und ungerechte Kritik. Kanzleien sollten daher mehr Energie in Qualitätsmanagement und Kommunikation investieren, anstatt auf dem Rechtsweg gegen jedes schlechte Online-Review vorzugehen. Denn die Hürden für eine erfolgreiche Löschung sind hoch – “Gerichte muten Kanzleien damit einiges zu” –, und der Schuss kann leicht nach hinten losgehen.