Posttraumatische Belastungsstörung eines Lokführers nach tödlichem Personenunfall

06. August 2020 -

Das Sozialgericht Stuttgart hat mit Urteil vom 14.06.2019 zum Aktenzeichen S 1 U 1827/17 entschieden, dass eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als Folge eines Arbeitsunfalls auch gegeben ist, wenn sich die psychische Störung durch eine Serie von traumatischen Einwirkungen entwickelt und sich die Einwirkungen einer Arbeitsschicht von den übrigen so abheben, dass ihnen eine eigenständige wesentliche Bedeutung für den eingetretenen Schaden zukommt.

Aus der Pressemitteilung des SG Stuttgart vom 03.08.2020 ergibt sich:

Ausnahmsweise liege auch dann ein Unfall vor, wenn sich eine von mehreren, nacheinander in verschiedenen Arbeitsschichten den Versicherten treffenden Einwirkungen, die zu der Schädigung führen, aus der Gesamtheit der Einwirkungen derart hervorhebe, dass sie nicht nur die Letzte mehrerer gleichwertiger Einwirkungen bilde. Dies sei dann der Fall, wenn dieser Einwirkung eine gleichsam eigenständige wesentliche Bedeutung für den eingetretenen Schaden zukomme, so das Sozialgericht.

Der Kläger befand sich im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als Zugchef in einem ICE, als es im Bahnhof L zu einem tödlichen Personenunfall kam und eine Frau und ein Mann von dem ICE erfasst und getötet wurden. Durchgangsärztlich wurde beim Kläger ein psychischer Ausnahmezustand diagnostiziert. Gegenüber seiner Psychotherapeutin gab der Kläger unter anderem an, dass er sich nach dem Unfall um die Fahrgäste und den Lokführer gekümmert habe, ebenso um deren Evakuierung. Er sei dabei mit Blut, Fleischfetzen und Leichenteilen konfrontiert worden. Die konsultierte Bahnpsychologin empfahl daraufhin eine ambulante Psychotherapie, die von der beklagten Unfallversicherung für 30 Sitzungen genehmigt wurde. Es wurde eine akute Belastungsreaktion diagnostiziert. Der Kläger arbeitete in der Folgezeit nur noch als Zugbegleiter und nicht mehr als Zugchef, da er sich der hohen Verantwortung als Zugchef nicht gewachsen fühlte. Mit Bescheid bejahte die Beklagte aufgrund des Ereignisses einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Zur Begründung bejahte sie als unfallbedingt eine akute Belastungsreaktion, eine Arbeitsunfähigkeit von fünf Tagen sowie eine Behandlungsbedürftigkeit von zehn Monaten. Darüber hinaus lehnte sie einen Anspruch auf Leistungen ab. Auf den dagegen durch die Bevollmächtigten des Klägers erhobenen Widerspruch holte die Beklagte bei Dr. B eine beratungsärztliche Stellungnahme ein. Der Kläger könne keineswegs als unfallunabhängig völlig unbelastet angesehen werden. Zumindest habe er in der Folge des Todes seiner Mutter unter einer depressiven Symptomatik gelitten. Auch sei seine Kindheit durch den Alkoholismus der Eltern, die sich getrennt hätten, als er 11 Jahre alt gewesen sei, geprägt gewesen. Deshalb bestünden mit Sicherheit Persönlichkeitsmerkmale, aus denen zumindest eine erhöhte Vulnerabilität resultiere. Es sei beim Kläger zu einer Verschiebung der Wesensgrundlage gekommen. Anzuerkennen als Unfallfolge sei eine akute Belastungssituation mit einer protrahierten mehrmonatigen Angstsymptomatik auf dem Boden einer vermehrt vulnerablen Übersprungspersönlichkeit. Gestützt darauf wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Im Klageverfahren hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens sowie eines testpsychologischen Zusatzgutachtens. Aufgrund der persönlichen Untersuchung des Klägers sowie der testpsychologischen Zusatzbegutachtung am selben ist ermittelt worden, dass beim Kläger eine PTBS zu diagnostizieren ist. Um die Diagnose zu begründen, sind die Diagnosekriterien des DSM-5genutzt worden, weil diese genauer und präziser die Symptomatik der PTBS mit ihren einzelnen Facetten beleuchteten, als das in der ICD-10 der Fall sei. Zunächst müsse eindeutig das A-Kriterium (Traumakriterium) für den streitgegenständlichen Unfall bejaht werden. Dieses sei dann erfüllt, wenn man mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt auf eine oder mehrere Arten konfrontiert werde, entweder durch das direkte Erleben eines traumatischen Ereignisses oder das persönliche Erleben eines solchen bei einer anderen Person. Im Fall des Klägers sei Letzteres erfüllt, ebenso die wiederholte oder extreme Konfrontation mit aversiven Details von einem oder mehreren derartigen traumatischen Erlebnissen, wie z. B. bei Ersthelfern, die menschliche Leichenteile aufsammeln müssten. Beim Kläger seien jedoch auch die weiteren Kriterien für die Diagnose einer PTBS erfüllt. Unter dem B-Kriterium werde gefordert, dass es zu Intrusionen, die auf das oder die traumatischen Ereignisse bezogen seien, komme, das heiße, wiederkehrende, unwillkürlich sich aufdrängende belastende Erinnerungen an das traumatische Ereignis. Intensive und anhaltende psychische Belastungen bei der Konfrontation mit inneren oder äußeren Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisierten. Dies entspreche genau der Reaktion, die der Kläger schildere, wenn er wieder einer Notbremsung im Zug ausgesetzt worden sei und sich eine heftige, sowohl psychische als auch körperliche Reaktion einstelle. Das Kriterium der anhaltenden Vermeidung von Reizen, die mit dem oder den traumatischen Ereignissen verbunden seien, werde beim Kläger durch die Tatsache erfüllt, dass er die verantwortliche Position des Zugchefs nicht mehr ausüben könne und trotz vieler Versuche diese Tätigkeit wiederaufzunehmen, dies vermeide. Auch das weitere Kriterium negativer Veränderungen von Kognition und Stimmung im Zusammenhang mit dem Erinnern des traumatischen Ereignisses liege vor. So beschreibe der Kläger sehr gut, dass er sich einerseits selbst die Schuld daran zuschreibe, er wäre verantwortlich gewesen und zum anderen, dass es immer wieder negative emotionale Zustände wie Furcht, Entsetzen, Wut, Schuld oder Scham gebe, wenn er nach einem Dienst, in dem er mit Erinnerungen konfrontiert werde, in Tränen ausbreche. Das weitere Kriterium einer Veränderung des Erregungsniveaus und der Reaktivität im Zusammenhang mit dem oder den traumatischen Ereignissen liege beim Kläger ebenfalls vor. Dieser berichte von Reizbarkeit, Wutausbrüchen, riskantem und selbstzerstörerischem Verhalten, wenn er als Mitreisender Menschen sehe, die nicht genug Abstand zum einfahrenden Zug hielten und diese dann deshalb anschreie.

Das SG Stuttgart hat der Klage stattgegeben und einen weiteren Anspruch auf Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung bejaht.

Das Sozialgericht ist aufgrund des von ihm eingeholten Gutachtens sowie des testpsychologischen Zusatzgutachtens zum Ergebnis gelangt, dass beim Kläger durch das Unfallereignis eine PTBS verursacht worden ist. Nach den Diagnosekriterien der PTBS unter Anwendung des ICD-10 oder des DSM-5 werde als Auslöser ein traumatisches Ereignis von besonderer Qualität mit einem extremen Belastungsfaktor verlangt. Dabei erweise sich das Ereignis, das diese Symptomatik hervorrufe, als generell belastend. Es werde im Einzelfall mit intensiver Angst, Schrecken oder Hilflosigkeit erlebt. Als Stressoren kommen in Betracht: ernsthafte Bedrohung oder Schädigung der eigenen körperlichen Integrität, Erleben eines Unfalls bzw. Todes Anderer. Charakteristische Merkmale für die PTBS seien ungewolltes Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Träumen und Gedanken (Nachhallerinnerungen bzw. Intrusionen), Vermeiden von Situationen, die an das Ereignis erinnern, Ängste oder Phobien, Einschränkung der emotionalen Reagibilität sowie anhaltende Symptome eines erhöhten Erregungsniveaus wie Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Schreckreaktionen. Dabei könne sich die PTBS unmittelbar nach dem Trauma entwickeln. Die Symptome zeigen sich mit einer Latenz von maximal sechs Monaten (nach ICD-10). Der akute Verlauf dauere im Allgemeinen weniger als drei Monate, danach spreche man von einer chronischen PTBS. Bei extremer Traumatisierung könne sich langfristig eine andauernde Persönlichkeitsänderung entwickeln.

Nach DSM 5 könne die Diagnose einer PTBS auch gestellt werden, wenn sich die psychische Störung durch eine Serie von traumatischen Einwirkungen entwickele. Diese Traumaklassifikation sei jedoch nicht kompatibel mit dem Begriff des Arbeitsunfalls, der eine psychische oder physische Einwirkung während einer Arbeitsschicht verlange.

Das Tatbestandsmerkmal „zeitlich begrenzt“ werde in § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII nicht näher bestimmt. Dem Vorschlag einer zeitlichen Grenze von einer Woche sei der Gesetzgeber nicht gefolgt, weshalb die Grenze weiterhin bei Einwirkungen höchstens innerhalb einer Arbeitsschicht liege (BSG, Urt. v. 31.01.2012 – B 2 U 2/11 R). Grundsätzlich erfülle die Gesamtheit mehrerer, auf einen längeren Zeitraum als eine Arbeitsschicht verteilter äußerer Einwirkungen nicht den Unfallbegriff, sondern könne unfallversicherungsrechtlich nur unter dem Gesichtspunkt einer Berufskrankheit (§ 9 SGB VII) relevant sein. Ein Unfall i.S.d. § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII liege aber ausnahmsweise dann vor, wenn sich die Einwirkungen in einer Arbeitsschicht von den übrigen so abheben, dass ihnen eine eigenständige wesentliche Bedeutung für den eingetretenen Schaden zukommt (Hauck/Noftz SGB VII, § 8 Rn. 12b, m.w.N.). Dies sei auch dann anzunehmen, wenn sich eine von mehreren, nacheinander in verschiedenen Arbeitsschichten den Versicherten treffenden Einwirkungen, die zu der Schädigung führen, aus der Gesamtheit der Einwirkungen derart hervorhebe, dass sie nicht nur die Letzte mehrerer gleichwertiger Einwirkungen bilde. Dies sei dann der Fall, wenn dieser Einwirkung eine gleichsam eigenständige wesentliche Bedeutung für den eingetretenen Schaden zukomme (vgl. Köhler, Sozialgerichtsbarkeit 2014, S. 69/78, 76).

Diese Voraussetzungen hat das Sozialgericht bejaht. Der Kläger habe anamnestisch glaubhaft und überzeugend geschildert, dass gerade das letzte Ereignis im ICE für ihn besonders und herausragend belastend gewesen sei und dieses auf der Grundlage seiner gesamten Berufstätigkeit und damit einhergehender psychischer Belastungen mit verschiedenen früheren traumatischen Erlebnissen, eine besondere Bedeutung habe. Dies werde von Dr. B in seinem Gerichtsgutachten ausführlich dargestellt und begründet.

Das Sozialgericht folgt dieser Begründung und macht sie sich zu eigen. Die dazu von Dr. B getroffenen Feststellungen legt das Sozialgericht seiner Entscheidung ebenfalls zugrunde. Das Sozialgericht ist zur Auffassung gelangt, dass für die psychischen Gesundheitsstörungen beim Kläger, wie sie bei ihm in Form der PTBS vorliegen, letztverantwortlich und herausragend das Unfallereignis im ICE ist.

Insoweit spielten die außerberuflichen psychischen Belastungen des Klägers im Elternhaus keine entscheidende Rolle. Auch die von der Beklagten angenommene Vulnerabilität führe bei Wahrunterstellung nicht dazu, dass diese als konkurrierende Ursache das Unfallereignis in den Hintergrund dränge. Die Vulnerabilität (sie bezeichnet in der Psychologie die Verwundbarkeit eines Menschen gegenüber negativen Einflüssen) sei für das Sozialgericht keine nachgewiesene Schadensanlage, wobei sich der haftungsbegründende Zusammenhang zwischen einer Schadensanlage und dem Unfallereignis auch nach der Theorie der wesentlichen Bedingung beurteilen würde. Dabei wäre dann zu beachten, dass nach dem Schutzzweck der Norm in der gesetzlichen Unfallversicherung der Versicherte in dem Zustand geschützt werde, in dem er sich im Zeitpunkt des Unfallereignisses befinde. Ausgangspunkt für die Ursachenbewertung im Einzelfall sei deshalb stets der konkrete Versicherte mit seiner ggf. bestehenden Krankheitsanlage und seinen Vorerkrankungen. Damit ergebe sich aus dieser Vermutung keine Bestätigung der Entscheidung der Beklagten.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig.