Immer häufiger geraten Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen ins Visier von Arbeitsgerichten. Diagnosen wie Burn-out oder Depression allein bieten im Streitfall oft keine absolute Sicherheit mehr. Arbeitgeber zweifeln vermehrt Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen an – selbst bei seelischen Leiden. Was bedeutet das für Arbeitnehmer und Arbeitgeber? Im Folgenden geben wir einen umfassenden Rechtstipp aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebersicht, mit Bezug auf aktuelle Urteile und konkreten Empfehlungen zum Umgang mit psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit am Arbeitsplatz.
Hoher Beweiswert der Krankschreibung – aber kein absoluter Schutz
Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung („der gelbe Schein“) hat grundsätzlich einen hohen Beweiswert dafür, dass ein Arbeitnehmer krankheitsbedingt nicht arbeitsfähig ist. Sie ist das vom Gesetz vorgesehene primäre Beweismittel, um gegenüber dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen. Grundsätzlich genügt es, dem Arbeitgeber eine ordnungsgemäß ausgestellte AU-Bescheinigung vorzulegen, um seiner Nachweispflicht nachzukommen. Der Arbeitgeber darf dann die Lohnfortzahlung nicht verweigern, solange er keinen konkreten Gegenbeweis hat.
Allerdings ist dieser Beweiswert nicht unerschütterlich. Keinesfalls stellt die AU-Bescheinigung eine unwiderlegbare gesetzliche Vermutung dar, die nur durch den Beweis des Gegenteils entkräftet werden könnte. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und notfalls beweist, die erhebliche Zweifel an der bescheinigten Krankheit begründen. Ein einfaches Bestreiten “Ich glaube Ihnen nicht” reicht nicht aus – die Zweifel müssen sich auf konkrete Indizien stützen.
Aktuelle Rechtsprechung: Ein wichtiges Beispiel liefert das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 08.09.2021 (Az. 5 AZR 149/21). In dem Fall hatte eine Arbeitnehmerin selbst gekündigt und am Tag der Kündigung ein ärztliches Attest mit der Diagnose „Burn-Out“ vorgelegt, das exakt bis zum Ende der Kündigungsfrist datiert war. Mit anderen Worten: Sie meldete sich für die gesamte Restlaufzeit ihres Arbeitsverhältnisses krank. Der Arbeitgeber verweigerte daraufhin die Lohnfortzahlung, und die Arbeitnehmerin klagte auf Entgeltfortzahlung – letztlich ohne Erfolg: Das BAG wies die Klage ab. Begründung: Die ungewöhnlichen Umstände (Krankmeldung zeitgleich mit der Eigenkündigung und genau passend zur Kündigungsfrist) begründeten ernsthafte Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit. Die Arbeitnehmerin konnte diese Zweifel nicht ausräumen, sodass ihr Attest im Prozess keinen Beweiswert mehr hatte. Infolgedessen musste sie die behauptete Krankheit anders belegen – was ihr nicht gelang, wodurch kein Anspruch auf Lohnfortzahlung bestand.
Wichtig ist jedoch: Dieses Urteil bedeutet nicht, dass eine ärztliche Krankschreibung nun generell “nichts mehr wert” sei. Im Gegenteil – nach wie vor gilt: Ohne konkrete Zweifel bleibt die AU-Bescheinigung voll gültig und bindet den Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung. Erst wenn der Arbeitgeber ausreichend begründete Zweifel vorbringt, muss der Arbeitnehmer im Streitfall die Krankheit gegebenenfalls konkret beweisen (z.B. durch Zeugenaussagen oder Gutachten). Die Hürden für solche Zweifel sind hoch, doch aktuelle Fälle zeigen, dass sie gerade bei auffälligen Konstellationen erfüllt sein können.
Typische Fallkonstellationen, die Zweifel begründen können:
- Krankmeldung direkt nach Kündigung: Wird ein Arbeitnehmer unmittelbar nach Ausspruch einer Kündigung krank und deckt die Bescheinigung passgenau den Kündigungszeitraum ab, kann dies den AU-Beweiswert erschüttern. Genau dies war im BAG-Urteil 2021 der Fall. Auch das BAG vom 13.12.2023 (Az. 5 AZR 137/23) hat eine solche Konstellation ausdrücklich als Beispiel für berechtigte Zweifel genannt.
- Auffälliges Krankheitsmuster: Treten Krankmeldungen wiederholt in einem Muster auf – etwa häufig am Montag oder Freitag („Wochenend-Verlängerung“) oder stets unmittelbar nach Urlaubsanträgen oder Streitigkeiten – kann der Arbeitgeber einen Missbrauchsverdacht schöpfen. § 275 Abs. 1a SGB V nennt solche Fälle explizit als anerkannte Zweifelgründe, z.B. wenn ein Mitarbeiter auffällig häufig oder kurz krank ist oder der Beginn der Krankheit häufig auf einen Montag fällt.
- Vorherige Ankündigung der Krankheit: Droht ein Arbeitnehmer etwa an, „dann bin ich eben krank“, und meldet sich kurz darauf tatsächlich krank, liegt der Verdacht nahe, dass die Erkrankung nur vorgetäuscht ist. Ein klassischer Fall: Ein Mitarbeiter kündigt im Streit an, sich krankschreiben zu lassen, falls ein Urlaubsantrag abgelehnt wird – und genau das passiert dann. In einem Urteil aus 2003 hat das BAG entschieden, dass eine solche vorausahndete Krankmeldung erhebliche Zweifel begründen und eine fristlose Kündigung rechtfertigen kann (BAG, Urt. v. 17.06.2003 – 2 AZR 123/02).
- Auffälliger Arzt / formale Unstimmigkeiten: Auch die Person des attestierenden Arztes oder die Art der Ausstellung kann Misstrauen erwecken. Das Sozialgesetzbuch (SGB V) erlaubt eine Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit etwa dann, wenn die AU-Bescheinigung von einem Arzt stammt, der durch ungewöhnlich viele Krankschreibungen auffällt. Ebenso können Verstöße gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie den Beweiswert mindern – z.B. wenn kein persönlicher Arztkontakt stattfand oder das Attest unzulässig lange rückdatiert wurde. Solche Details sind dem Arbeitgeber zwar meist nicht direkt bekannt (Diagnosen stehen normalerweise nicht auf der Arbeitgeber-Ausfertigung der AU), doch falls ihm z.B. eine freiwillig mitgeteilte Diagnose oder offenkundige Unregelmäßigkeiten bekannt werden, kann er auch daraus Zweifel herleiten.
- Vage oder „modische“ Diagnosen: Insbesondere im Bereich psychischer Leiden gibt es Diagnosen wie „Burn-out“ oder „Neurasthenie“ (Erschöpfungssyndrom), die manchen Arbeitgeber skeptisch stimmen. Sie gelten als schwer objektivierbar. Allerdings reicht die Diagnose an sich nicht aus, um eine Erkrankung anzuzweifeln – es müssen zusätzliche Umstände hinzutreten. So meinte in einem Fall der Arbeitgeber, aus der Diagnose Neurasthenie ergebe sich ein reines „Gefälligkeitsattest“, da der Mitarbeiter zuvor „keinen Bock“ geäußert habe. Das Arbeitsgericht sah hierin aber keinen ausreichenden Beweis, sodass der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung nachzahlen musste. Allein weil die Krankheit psychischer Natur ist oder der Begriff modisch klingt, darf der Arbeitgeber nicht automatisch von Simulation ausgehen.
Zusammenfassend gilt: Erst belastbare Indizien – beispielsweise eine zeitliche Koinzidenz von Kündigung und Krankmeldung oder ein vom Arbeitnehmer selbst geschaffenes Misstrauen – rechtfertigen Zweifel an der Krankschreibung. In solchen Ausnahmefällen trägt dann der Arbeitnehmer die volle Beweislast, seine tatsächliche Erkrankung über das Attest hinaus zu belegen. Andernfalls bleibt es beim Grundsatz, dass die ärztliche Bescheinigung als Nachweis genügt.
Handlungsempfehlungen für Arbeitnehmer
- Krankheit sofort melden und Attest vorlegen: Als Arbeitnehmer sind Sie verpflichtet, sich unverzüglich krankzumelden (§ 5 Abs. 1 Satz 1 EntgFG). Dauert Ihre Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, müssen Sie spätestens am viertEN Tag eine ärztliche Bescheinigung vorlegen (§ 5 Abs. 1 Satz 2 EntgFG). Achtung: Ihr Arbeitgeber darf sogar schon früher ein Attest verlangen – auch ab dem ersten Krankheitstag, ohne Begründung. Dieses Recht hat das BAG ausdrücklich bestätigt (Urt. v. 14.11.2012 – 5 AZR 886/11). Kommt also z.B. die Anweisung, bereits am ersten Fehltag ein Attest einzureichen, müssen Sie dem nachkommen. Andernfalls riskieren Sie eine Abmahnung. Tipp: Bei psychischen Beschwerden (Burn-out, Depression etc.) kann es ratsam sein, frühzeitig einen Facharzt (z.B. Psychiater) oder Psychotherapeuten aufzusuchen. Dessen Diagnose und Attest haben unter Umständen mehr Gewicht als eine bloße Hausarztmeldung, gerade wenn es später um den Nachweis der Krankheit geht.
- Auf korrekte Ausstellung der Krankschreibung achten: Stellen Sie sicher, dass Ihre AU-Bescheinigung ordnungsgemäß ausgestellt ist. Sie müssen den Arzt in der Regel persönlich konsultieren (oder per qualifizierter Videosprechstunde, soweit zulässig). Unzulässige Fernbescheinigungen oder zu lange Rückdatierungen (mehr als 3 Tage rückwirkend) sind nicht erlaubt. Achten Sie darauf, dass das Attest lückenlos den gesamten Krankheitszeitraum abdeckt – ohne Unterbrechungen an Wochenenden oder Zwischentagen, die nicht erklärt sind. Solche Lücken könnten Misstrauen wecken (“Warum war genau am Samstag keine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt?”). Kurz: Spielen Sie nicht selbst den Arzt. Gehen Sie wirklich zum Arzt und halten Sie sich an dessen Vorgaben. Ein Gefälligkeitsattest zu erschleichen, mag kurzfristig verlockend erscheinen, ist aber höchst riskant – es kann im Ernstfall als Urkundenfälschung oder Betrug gewertet werden. Bleiben Sie also ehrlich gegenüber Ihrem Arzt und Arbeitgeber.
- Bei Zweifel des Arbeitgebers: Kooperation statt Konfrontation: Wenn Ihr Arbeitgeber offen Zweifel an Ihrer Krankheit äußert oder gar die Lohnfortzahlung einstellt, bleiben Sie ruhig und kooperativ. Versuchen Sie, die Zweifel auszuräumen. Das kann bedeuten, dem Arbeitgeber zusätzliche Nachweise zu liefern. Sie haben z.B. die Möglichkeit, Ihren behandelnden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden und ihn als Zeugen im Arbeitsgerichtsprozess benennen zu lassen. Der Arzt kann dann – etwa durch eine schriftliche Stellungnahme oder Aussage vor Gericht – bestätigen, dass und warum Sie arbeitsunfähig waren. Bereiten Sie sich darauf vor, im Streitfall solche medizinischen Details offenzulegen; sonst wird es schwer, das Gericht zu überzeugen. Tipp: Führen Sie zu Hause Buch über Ihre Krankheitsphase. Notieren Sie z.B. Symptome, Arztbesuche, Medikation oder Therapieempfehlungen. Heben Sie Rezepte, Krankschreibungen und Überweisungen auf. Diese Unterlagen können später helfen, die Ernsthaftigkeit Ihrer Erkrankung zu untermauern.
- Fristen wahren – trotz Krankheit: Erhalten Sie eine Kündigung, gilt auch für kranke Arbeitnehmer die strenge Drei-Wochen-Frist zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage (§ 4 KSchG). Psychische Ausnahmesituationen ändern daran zunächst nichts. Versäumen Sie die 3-Wochen-Frist nicht! Wenn Sie aufgrund Ihrer Depression oder eines Burn-out außer Stande sind, selbst zu handeln, sollten Sie unverzüglich einen Anwalt oder eine Vertrauensperson einschalten, der die Klage fristgerecht für Sie einreicht. Die Hürden für eine nachträgliche Fristverlängerung (Wiedereinsetzung) sind extrem hoch: Eine psychische Erkrankung zählt nur dann als Entschuldigung, wenn sie so schwer war, dass Sie nicht einmal mehr einen Vertreter mit der Wahrung Ihrer Interessen beauftragen konnten. Das muss ein Attest detailliert bestätigen (Untersuchungsergebnisse, konkrete Diagnose, absolute Handlungsunfähigkeit) – allgemeine Ausführungen wie „Patient war depressiv“ reichen dafür nicht aus. Verlassen Sie sich also nicht darauf, nachträglich Gehör zu finden. Handeln Sie rechtzeitig, notfalls mit externer Hilfe, um Ihre Rechte zu wahren.
- Kündigungsschutz bei langer psychischer Erkrankung: Wenn Ihre Erkrankung andauert (z.B. monatelange Depression oder ein Burn-out-Syndrom), besteht die Gefahr einer krankheitsbedingten Kündigung. Doch solche Kündigungen seitens des Arbeitgebers unterliegen strengen Voraussetzungen. Prüfen Sie im Falle einer Kündigung unbedingt mit einem Fachanwalt, ob eine Kündigungsschutzklage Erfolg verspricht. Oft sind vorschnelle krankheitsbedingte Kündigungen anfechtbar. Eine Kündigung aus Krankheitsgründen ist nur wirksam, wenn eine negative Gesundheitsprognose besteht (d.h. es ist sehr unwahrscheinlich, dass Sie in absehbarer Zeit wieder vollständig arbeitsfähig werden) und dem Arbeitgeber durch die Krankheit erhebliche betriebliche Belastungen entstehen. Gerade bei psychischen Diagnosen ist die Prognose aber häufig schwierig. Ein einzelnes Attest mit der Diagnose „Burn-out“ belegt noch keine dauerhafte Unheilbarkeit. So hat z.B. das Landesarbeitsgericht Köln entschieden, dass allein aus der Diagnose Burn-out-Syndrom nicht ohne Weiteres geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde nie wieder genesen oder sei dauerhaft leistungsunfähig. Übersetzt: Ein Burn-out ist meist therapierbar; der Arbeitgeber kann nicht einfach kündigen in der Annahme, Sie seien „für immer ausgebrannt“, ohne dies medizinisch untermauert zu haben. Ähnliches dürfte für schwere Depressionen gelten – viele Betroffene erlangen mit Behandlung wieder Arbeitsfähigkeit. Wehren Sie sich daher gegen vorschnelle Kündigungen. In der Regel muss der Arbeitgeber vor einer Kündigung wegen Langzeiterkrankung ein Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) anbieten und alle milderen Mittel prüfen. Lassen Sie sich beraten, ob im konkreten Fall die Kündigung wirklich sozial gerechtfertigt ist.
- Anspruch auf Entgeltfortzahlung sichern: Sollte Ihr Arbeitgeber im Krankheitsfall die Lohnfortzahlung verweigern mit der Begründung, Ihre AU sei zweifelhaft oder „unglaubwürdig“, stehen Sie nicht schutzlos da. Zunächst haben Sie Anspruch auf eine Begründung für die Zweifel – bloße Unterstellungen müssen Sie nicht hinnehmen. Fordern Sie Ihren Arbeitgeber (schriftlich) auf, die Gründe darzulegen. Dann schalten Sie möglichst umgehend einen Anwalt ein, um Ihren Entgeltfortzahlungsanspruch durchzusetzen. Dies kann im Wege einer Klage vor dem Arbeitsgericht geschehen. In vielen Fällen lenken Arbeitgeber schon ein, wenn sie merken, dass Sie sich wehren und sie ihre Behauptungen vor Gericht beweisen müssen. – Finanzielle Überbrückung: Informieren Sie sofort Ihre Krankenkasse, wenn der Arbeitgeber die Lohnzahlung stoppt. Zwar springt das Krankengeld normalerweise erst nach 6 Wochen Krankheit ein (§ 3 Abs. 1 EntgFG, § 46 SGB V). Doch für die Zeit der verweigerten Entgeltfortzahlung kann ggf. eine vorläufige Regelung gefunden werden. Manche Kassen zahlen Krankengeld bereits früher, wenn klar ist, dass der Arbeitgeber nicht zahlt – vor allem, um den Arbeitnehmer vor finanzieller Not zu schützen. Die Krankenkasse wird dann vom Arbeitgeber Details über die Zweifel verlangen und ggf. den Medizinischen Dienst einschalten. Beachten Sie: Sollte sich im Nachhinein herausstellen, dass Ihr Arbeitgeber zu Unrecht die Lohnfortzahlung verweigert hat, kann die Kasse den Arbeitgeber auf Erstattung des verauslagten Krankengeldes in Anspruch nehmen. Dieses Wissen können Sie auch offensiv nutzen: Weisen Sie Ihren Arbeitgeber freundlich darauf hin, dass er im Irrtumsfall am Ende doppelt zahlt (Lohn + Regress an die Kasse). Insgesamt gilt: Bleiben Sie wahrheitsgemäß in Ihren Angaben gegenüber Arzt, Krankenkasse und Arbeitgeber. Wenn Sie wirklich arbeitsunfähig sind, stehen das Gesetz und die Gerichte hinter Ihnen – nutzen Sie diese Rechte, aber seien Sie auch bereit, sie nötigenfalls zu verteidigen.
Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber
- Rechte bei Zweifeln kennen und gezielt nutzen: Wenn Sie als Arbeitgeber den Verdacht haben, ein Arbeitnehmer könnte seine Krankheit vortäuschen oder ausschmücken, dürfen Sie die Arbeitsunfähigkeit nicht leichtfertig unterstellen, aber Sie müssen sie auch nicht blind glauben. Der erste Schritt ist stets: Sammeln Sie konkrete Anhaltspunkte. Beobachtungen und Indizien sollten dokumentiert werden – z.B. auffällige Fehlzeitmuster (immer montags/freitags krank, Krankmeldung direkt nach Zoff um Urlaub, etc.), Äußerungen des Mitarbeiters („Dann mache ich halt krank“), sichtbares anderweitiges Arbeiten oder Feiern trotz Krankmeldung, usw. Halten Sie Datum, Uhrzeit, Zeugen und Inhalt solcher Auffälligkeiten schriftlich fest. Nur auf dieser Basis können Sie später vor Gericht darlegen, warum ernsthafte Zweifel bestanden. Achten Sie darauf, zwischen Gefühl und Fakt zu trennen: Ein vages Misstrauen (“Ich glaube, der stellt sich nur krank”) reicht nicht. Es müssen Tatsachen her, die objektiv den Schluss nahelegen, dass etwas nicht stimmt. Haben Sie solche Tatsachen, können Sie den Beweiswert der AU erschüttern – mit der Folge, dass der Arbeitnehmer weitere Beweise für seine Krankheit liefern muss. Die aktuelle BAG-Rechtsprechung hat klargestellt, dass Sie hierbei nicht auf bestimmte gesetzliche Beispiele beschränkt sind. Zwar nennt § 275 SGB V einige typische Konstellationen (häufige Kurzkrankheiten, Montagkrankheit, „Attest-Doktore“), aber auch darüber hinaus sind alle Umstände zulässig, die ernsthafte Zweifel begründen.
- Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) einschalten: Anstatt vorschnell eigene Schlüsse zu ziehen, nutzen Sie die offizielle Prüfinstanz. Gemäß § 275 Abs. 1a SGB V können Sie die Krankenkasse des Arbeitnehmers um eine Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit durch den MDK bitten, wenn Sie begründete Zweifel haben. Die Gesetzesregelung zählt Beispiele auf, wann Zweifel “anerkannt” sind – u.a. auffällig häufige Kurzerkrankungen, Krankheitsbeginn typischerweise am Wochenanfang oder ein Arzt, der durch überproportional viele Atteste auffällt. Dies sind aber keine abschließenden Fälle. Auch in anderen Situationen, die Ihnen verdächtig vorkommen (z.B. die passgenaue Krankschreibung nach Kündigung oder eine Krankmeldung nach vorheriger Ankündigung im Streit), ist der MDK der richtige Weg. Zögern Sie nicht, von diesem Instrument Gebrauch zu machen. Verfahren: Sie teilen der Krankenkasse des Mitarbeiters Ihre konkreten Zweifel mit (am besten schriftlich, mit allen relevanten Details). Die Kasse veranlasst dann eine Begutachtung durch den MDK. Der Mitarbeiter wird ggf. zu einer Untersuchung eingeladen oder der MDK nimmt Kontakt zum behandelnden Arzt auf. Ergebnis: Der MDK erstellt ein Gutachten, ob die Arbeitsunfähigkeit medizinisch nachvollziehbar ist. Vorteile: Dieses Verfahren schafft objektive Klarheit – entweder bestätigt es Ihre Befürchtungen oder es entkräftet sie. In beiden Fällen haben Sie Sicherheit. Lehnt der MDK die Arbeitsunfähigkeit ab, kann das Ihre Position in einem Rechtsstreit massiv stärken. Bestätigt der MDK hingegen die Krankheit, sollten Sie dies akzeptieren; weiteren Streit vor Gericht werden Sie dann kaum gewinnen. Hinweis: Einige Arbeitgeber verzichteten nach dem BAG-Urteil 2021 fälschlich auf den MDK und verweigerten direkt die Lohnfortzahlung. Dies ist riskant und nicht vom BAG gedeckt. Das BAG wollte keinen Freibrief zum Ignorieren der AU geben. Nutzen Sie also weiterhin den vorgesehenen Weg über den MDK, bevor Sie eigenmächtig handeln.
- Entgeltfortzahlung nur bei handfesten Zweifeln aussetzen: Die konsequenteste (und riskanteste) Maßnahme bei Verdacht auf „Krankfeiern“ ist, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu stoppen. Sie sind dazu berechtigt, solange der Beweiswert der vorgelegten AU erschüttert ist – sprich: Sie haben hinreichende Indizien, dass keine echte Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Warnung: Diese Entscheidung will gut überlegt sein. Sie tragen hier das volle Prozessrisiko. Geht der Fall vor Gericht, prüft der Richter genau, ob Ihre Zweifel wirklich so gravierend waren, dass sie den hohen Beweiswert der AU zunichtemachen. Wenn nein, verlieren Sie – und müssen nicht nur den Lohn nachzahlen, sondern unter Umständen auch Verzugszinsen und Prozesskosten. Ein aktueller Fall zeigt, dass Gerichte nicht zögern, Arbeitgeber zur Nachzahlung zu verurteilen, wenn die Zweifel lediglich auf „dünnen“ Indizien beruhten. Im Bielefelder Fall 2023 etwa reichten vage Angaben über Lustlosigkeit des Mitarbeiters und die Diagnose Neurasthenie nicht aus – der Arbeitgeber musste ~1.600 € Entgeltfortzahlung nachzahlen. Daher: Machen Sie von der Zahlungsverweigerung nur Gebrauch, wenn Sie wirklich überzeugt sind, dass Missbrauch vorliegt und Sie hierfür belastbare Beweise haben. Gehen Sie eher schrittweise vor: Sie können z.B. zunächst den MDK-Bericht abwarten, bevor Sie final über die Fortzahlung entscheiden. Falls Sie sich zur Zahlungsverweigerung entschließen, kommunizieren Sie sofort klar gegenüber dem Arbeitnehmer und der Krankenkasse, dass und warum Sie nicht zahlen. Diese Information an die Kasse ist wichtig, damit der Arbeitnehmer ggf. Krankengeld beziehen kann – sonst steht er ohne Einkommen da, was im Zweifel Ihrem Ansehen im Verfahren schadet. Zudem vermeiden Sie so, dass man Ihnen vorwirft, den Krankenversicherungsträger im Dunkeln gelassen zu haben. Bedenken Sie auch: Stellt sich Ihre Vermutung als falsch heraus, kann die Krankenkasse Sie regresspflichtig machen und die verauslagten Beträge von Ihnen zurückfordern. Unberechtigtes Vorenthalten von Lohn kann überdies das Vertrauensverhältnis massiv beschädigen und andere Mitarbeitende verunsichern. Kurzum: mit Bedacht einsetzen!
- Attestanforderung als Präventionsinstrument: Nutzen Sie die bestehenden Kontrollrechte, um Missbrauch vorzubeugen. Wie erwähnt, dürfen Sie nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EntgFG ohne Anlass ein ärztliches Attest ab dem 1. Fehltag verlangen. Dieses Recht können Sie z.B. bei Mitarbeitern anwenden, die in der Vergangenheit durch verdächtige Fehlzeitmuster aufgefallen sind. Eine solche Anordnung kann auch generell im Betrieb oder in bestimmten Abteilungen ausgesprochen werden. Beachten Sie jedoch die Grenzen: Die Ausübung des Rechts muss im billigen Ermessen erfolgen – sprich, willkürlich einzelne Mitarbeiter ohne Sachgrund strenger zu behandeln könnte als Schikane oder Diskriminierung ausgelegt werden. Zwar müssen Sie laut BAG keine Gründe nachweisen und kein konkretes Misstrauen haben, um ein Attest ab Tag 1 zu fordern. Dennoch sollte die Maßnahme verhältnismäßig und konsistent sein. Ein Betriebsrat hat bei einer solchen allgemeinen Anordnung u.U. Mitbestimmungsrechte, da es um betriebliche Ordnung geht – holen Sie hier zur Sicherheit Rücksprache, falls ein Betriebsrat existiert. Im Einzelfall (wie im BAG-Fall 2012) kann auch eine individuelle Attestauflage rechtmäßig sein, z.B. wenn ein konkreter Vorfall (Fehlzeit nach abgelehntem Urlaub) Zweifel geweckt hat. Fazit: Das Attest ab Tag 1 ist ein legitimes Mittel, um „Krankfeiern“ unattraktiver zu machen. Viele Arbeitnehmer überlegen es sich zweimal, bei banalen Unpässlichkeiten sofort daheim zu bleiben, wenn sie wissen, dass sie noch am selben Tag zum Arzt müssen. Setzen Sie dieses Mittel gezielt ein – es dient der Kontrolle der Vertragstreue, sollte aber nie als Bestrafung wirken.
- Vorsicht bei Kündigungen im Krankheitskontext: Eine vorschnelle Kündigung wegen Krankheit oder vermeintlicher Vortäuschung kann juristisch ins Leere laufen oder sogar eine Gegendarstellung als Kündigungsschutzklage nach sich ziehen. Prüfen Sie daher gründlich die Voraussetzungen, bevor Sie einem langfristig erkrankten Mitarbeiter kündigen. Bei einer Langzeiterkrankung (auch psychischer Natur) brauchen Sie eine fundierte negative Prognose: Idealerweise stützen Sie sich auf ein medizinisches Gutachten oder die Einschätzung eines Betriebsarztes, das besagt, dass in absehbarer Zeit keine Besserung zu erwarten ist. Ohne ein solches Fundament hat eine krankheitsbedingte Kündigung kaum Bestand – Gerichte verlangen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Arbeitnehmer seine Pflichten dauerhaft nicht mehr erfüllen kann. Insbesondere bei Diagnosen wie Depression oder Erschöpfungssyndrom sollte man bedenken, dass Therapieverläufe positiv sein können. Die Rechtsprechung (siehe LAG Köln) mahnt, dass aus einem Burn-out nicht einfach auf Unheilbarkeit geschlossen werden darf. Zudem sind betriebliche Interessenabwägungen vorzunehmen: Welche Belastungen entstehen durch die Fehlzeiten, gibt es Möglichkeiten der Überbrückung, ist eine Wiederholung absehbar? Oft muss vor einer Kündigung auch ein BEM-Verfahren (Betriebliches Eingliederungsmanagement) angeboten werden, um Alternativen auszuloten. – Verdachtskündigung bei vorgetäuschter Krankheit: Haben Sie den dringenden Verdacht, dass ein Mitarbeiter seine Krankheit nur simuliert (z.B. weil er entgegen seiner Erklärung Sport treibt oder woanders arbeitet), kann in Extremfällen sogar eine außerordentliche (fristlose) Kündigung in Betracht kommen. Aber Vorsicht: Eine Verdachtskündigung wegen vorgetäuschter Arbeitsunfähigkeit setzt voraus, dass der Verdacht stark und dringend ist und Sie alle zumutbaren Aufklärungsmaßnahmen durchgeführt haben. Dazu gehören Anhörung des Mitarbeiters zu den Vorwürfen und ggf. detektivische Nachforschungen, falls verhältnismäßig. Bloße Indizien wie “krank nach Streit” reichen nicht – hier sollte zunächst das oben empfohlene Verfahren (MDK etc.) abgewartet werden. Praxis-Tipp: Im Falle einer Kündigung – ob krankheitsbedingt oder verdachtsbasiert – lassen Sie sich unbedingt anwaltlich beraten, um keine Fristen oder Formalien zu verletzen. Beachten Sie insbesondere die 3-Wochen-Frist: Kündigt ein Arbeitnehmer selbst und ist dann krank, oder kündigen Sie einem krankgemeldeten Mitarbeiter, können beide Seiten innerhalb von 3 Wochen Kündigungsschutzklage erheben. Reagiert der Arbeitnehmer nicht fristgerecht, wird die Kündigung rechtsbeständig – ungeachtet der Krankheitsumstände. Umgekehrt sollten Sie bei Verdachtskündigungen zügig handeln, sobald der Verdacht sich erhärtet, da sonst die Dringlichkeit angezweifelt wird.
- Gute Kommunikation und Fairness: Nicht zuletzt: Pflegen Sie eine offene Kommunikation mit Ihren Mitarbeitern zum Thema Krankheit. Signalisieren Sie, dass Sie bei echten gesundheitlichen Problemen Unterstützung bieten (z.B. flexible Wiedereingliederung nach Depression, Gespräche über Arbeitsbelastung um Burn-out vorzubeugen etc.). Das nimmt den Nährboden für Misstrauen. Wenn doch ein Verdachtsfall auftritt, gehen Sie besonnen vor. Unterstellen Sie nicht sofort böse Absicht, sondern suchen Sie das Gespräch: Gibt es private oder arbeitsbedingte Gründe, die zur Erkrankung geführt haben könnten? Manchmal klärt ein offenes Gespräch Missverständnisse und erspart beiden Seiten den Rechtsstreit. Denken Sie daran: Jeder Mitarbeiter, der krankfeiert, ist zwar ein Ärgernis – aber jeder wirklich psychisch Kranke, der ungerechtfertigt unter Druck gerät, ist auch ein menschliches Risiko (Stichwort Fürsorgepflicht). Behandeln Sie das Thema also mit der gebotenen Seriosität und Diskretion. Wenn Sie Zweifel haben, ohne gleich an Betrug zu glauben, können auch interne Lösungen helfen (etwa eine Aufforderung, beim Betriebsarzt vorstellig zu werden, um die Einsatzfähigkeit zu überprüfen – natürlich nur im Rahmen des Arbeitsrechts und der ärztlichen Schweigepflicht). Insgesamt gilt: Fairness und Rechtskenntnis zahlen sich aus. Sie vermeiden Fehlentscheidungen, die später vor Gericht korrigiert würden, und erhalten eine bessere Arbeitsatmosphäre.
Psychische Erkrankungen wie Burn-out und Depression sind in der Arbeitswelt angekommen – und mit ihnen neue Herausforderungen im Arbeitsrecht. Arbeitnehmer sollten wissen, dass Diagnosen als solche im Ernstfall hinterfragt werden können. Ein ärztliches Attest bleibt zwar der Goldstandard zum Krankheitsnachweis, doch bei begründeten Zweifeln müssen Beschäftigte gegebenenfalls zusätzliche Belege für ihre Arbeitsunfähigkeit liefern. Arbeitgeber wiederum haben Mittel an der Hand, um tatsächlichem Missbrauch von Krankschreibungen entgegenzutreten – vom Attest ab Tag 1 über die MDK-Prüfung bis zur letztlichen Verweigerung der Lohnfortzahlung, sofern die Indizien es wirklich tragen. Die Gerichte verlangen in jüngster Zeit weder blindes Vertrauen noch erlauben sie pauschales Misstrauen: Entscheidend sind immer die konkreten Umstände des Einzelfalls. Beide Seiten tun also gut daran, im Krankheitsfall sorgfältig und ehrlich vorzugehen. Arbeitnehmer sollten ihre psychische Erkrankung ernst nehmen, sie korrekt bescheinigen lassen und notfalls verteidigen; Arbeitgeber sollten Hinweise auf etwaigen Betrug prüfen, aber auch die Grenzen des Zulässigen respektieren. Mit diesem ausgewogenen Vorgehen wahrt man Rechte und Pflichten – und trägt letztlich zu einem vertrauensvollen Miteinander im Betrieb bei, selbst in schwierigen Zeiten der Krankheit. Juristischer Rat im Einzelfall ist empfehlenswert, um die richtige Balance zu finden und keine rechtlichen Fristen oder Möglichkeiten zu versäumen. Denn: Nur wer seine Rechte und Pflichten kennt, kann sie erfolgreich durchsetzen.