Räumung und Herausgabe einer innegehaltenen Wohnung verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 13. Mai 2024 zum Aktenzeichen 2 BvR 26/24 entschieden, dass ein Urteil auf Räumung und Herausgabe einer innegehaltenen Wohnung verfassungswidrig ist.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde begehrt die Beschwerdeführerin die Verlängerung eines Räumungsschutzes.

Die Beschwerdeführerin ist 83 Jahre alt und wohnt seit 2002 in einer Mietwohnung in (…), zuletzt ohne weitere Mitbewohner. Aufgrund eines vor dem Landgericht Köln im Jahr 2022 geschlossenen Räumungsvergleichs wird gegen die Beschwerdeführerin die Zwangsvollstreckung auf Räumung und Herausgabe der Wohnung betrieben.

Nachdem zunächst Termin zur zwangsweisen Räumung auf den 15. Dezember 2022 bestimmt worden war, stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO, den sie im Wesentlichen damit begründete, dass sie keinen Ersatzwohnraum gefunden habe. Das Amtsgericht Köln wies diesen Antrag mit Beschluss vom 12. Dezember 2022 zurück, jedoch wurde mit Ordnungsverfügung der Stadt Köln vom 14. Dezember 2022 befristet bis zum 14. März 2023 die Mietwohnung beschlagnahmt und die Beschwerdeführerin in die Wohnung wiedereingewiesen, da die Stadt der Beschwerdeführerin keinen angemessenen Ersatzwohnraum habe bereitstellen können.

Nachdem sodann erneut Termin zur zwangsweisen Räumung, nunmehr auf den 16. März 2023, bestimmt worden war, stellte die Beschwerdeführerin abermals einen Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung. Dieser Antrag wurde vom Amtsgericht Köln mit Beschluss vom 13. März 2023 zurückgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin hin stellte das Landgericht Köln die Zwangsvollstreckung im Hinblick auf eine mögliche Gesundheitsgefährdung der Beschwerdeführerin bis zur Beendigung des Beschwerdeverfahrens ein, wies die Beschwerde aber schließlich mit Beschluss vom 26. Mai 2023 zurück, da aufgrund des Mietzahlungsverhaltens der Beschwerdeführerin seit Juni 2022 „der Sachverhalt in neuem Lichte erscheine“.

Nachdem erneut Termin zur zwangsweisen Räumung, nunmehr auf den 24. August 2023 bestimmt worden war, stellte die Beschwerdeführerin nochmals einen Antrag nach § 765a ZPO und legte diverse Atteste zur Suizidgefahr vor (vgl. die Atteste vom 5. Juni 2023 [Fachärztin für Innere Medizin]: „akuter Notstand mit suizidalem Ausgang zu befürchten“; vom 7. Juli 2023 und vom 4. August 2023 [Diplom-Psychologe]: „im Fall der Räumung suizidales Risiko nicht ausgeschlossen“; vom 9. August 2023 [Sozialpsychiatrischer Dienst]: „für den Fall der Zwangsräumung kann suizidale Handlung nicht ausgeschlossen werden“). Das Amtsgericht stellte daraufhin mit Beschluss vom 23. August 2023 die Zwangsvollstreckung einstweilen bis zum 1. Dezember 2023 ein und erteilte der Schuldnerin die Auflage, jeweils zum Monatsanfang eine ärztliche Bescheinigung über eine psychiatrische Behandlung zur Akte zu reichen. Aufgrund der psychotherapeutischen Stellungnahme des behandelnden Psychologen sei von einer kausalen Beziehung zwischen der Räumung und einem Suizidrisiko aufseiten der Beschwerdeführerin auszugehen.

In der Folge war die Beschwerdeführerin in Behandlung bei einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und legte die entsprechenden fachärztlichen Bescheinigungen vor. In den Bescheinigungen wird stets ausgeführt, dass bei Verlust der Wohnung eine akute Suizidalität nicht sicher ausgeschlossen werden könne. Kurz vor Ablauf der Räumungsschutzfrist am 1. Dezember 2023 beantragte die Beschwerdeführerin, die Zwangsvollstreckung über dieses Datum hinaus einzustellen. Den Antrag wies das Amtsgericht Köln mit angegriffenem Beschluss vom 30. November 2023 zurück. Die Beschwerdeführerin habe genügend Zeit gehabt, sich durch ärztliche Behandlung um Besserung ihres Zustands zu bemühen. Außerdem besage die zuletzt vorgelegte ärztliche Bescheinigung, dass eine Besserung in absehbarer Zeit nicht in Sicht sei. Auf dieser Basis sei eine nochmalige Verzögerung der Räumung nicht mehr vertretbar und nach aller Wahrscheinlichkeit auch sinnlos, da allenfalls eine nochmalige Einstellung für drei Monate als letzte Maßnahme denkbar wäre.

Die Beschwerdeführerin legte daraufhin sofortige Beschwerde beim Landgericht ein und zwei weitere Atteste vor (vgl. die Atteste vom 19. Dezember 2023 [Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie]: „aufgrund angedrohter Zwangsräumung erhebliche Gesundheitsgefährdung in Form latenter bis akuter Suizidalität nicht auszuschließen“ und vom 20. Dezember 2023 [Fachärztin für Innere Medizin]: „unverständlich, wieso man sich über die übereinstimmenden Aussagen von drei Fachärzten hinwegsetzt und das wiederholt beschriebene Suizidrisiko billigend in Kauf nimmt“).

Das Landgericht Köln wies mit angegriffenem Beschluss vom 8. Januar 2024 die sofortige Beschwerde zurück.

Es bestünden bereits erhebliche Bedenken gegen die Zulässigkeit, weil über den auf Suizidgefahr gestützten Antrag der Beschwerdeführerin nach § 765a ZPO bereits durch Beschluss des Landgerichts vom 26. Mai 2023 abschließend entschieden worden sei. Die Sachlage habe sich nicht verändert; allein die Einreichung neuer Atteste reiche hierfür nicht aus.

Letztlich sei die Beschwerde unbegründet. Bei der Abwägung der Interessen von Gläubiger und Schuldner komme den Gläubigerinteressen vorrangiges Gewicht zu. Ein erhebliches Überwiegen der Schuldnerinteressen komme zwar in Betracht, wenn die Zwangsvollstreckung Leben oder Gesundheit des Schuldners ernsthaft gefährde. Ein entsprechender Vortrag müsse aber durch Vorlage ausführlicher fachärztlicher Atteste untermauert werden.

Dem werde der Vortrag der Beschwerdeführerin nicht gerecht. In den Attesten werde stets nur ausgeführt, dass eine suizidale Handlung der Beschwerdeführerin nicht ausgeschlossen werden könne. Zur Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit für eine Selbsttötung sei dies nicht ausreichend. Letztlich könne bei keinem Menschen sicher ausgeschlossen werden, dass er sich im Falle einer Zwangsräumung suizidiere. Bei der der Beschwerdeführerin attestierten Gefahr der Selbsttötung handele es sich letztlich um ein „allgemeines Suizidalitätsrisiko“.

Die Vollstreckungsgerichte haben den Einfluss und die Wertentscheidungen der Grundrechte auch bei der Handhabung des Verfahrensrechts zu beachten. Dies schließt es aus, bei der Beurteilung der Frage „kleinlich“ zu verfahren, ob sich eine Sachlage so geändert hat, dass eine Aufhebung oder Änderung der im vorangegangenen Vollstreckungsschutzverfahren getroffenen Entscheidung geboten ist. Mit Rücksicht auf die Pflicht des Staates, Verfassungsverletzungen, insbesondere schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst auszuschließen, ist eine solche Änderung der Sachlage etwa auch dann anzunehmen, wenn der Schuldner zwar ein und dieselbe Krankheit als Vollstreckungshindernis bezeichnet, diese jedoch einen Verlauf genommen hat, welcher bei der vorangegangenen Antragstellung und seiner Bescheidung nicht hat vorhergesehen werden können (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2023 – 2 BvR 1233/23 – <Rn. 23 m.w.N.>).

Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen − beim Fehlen eigener Sachkunde − zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2023 – 2 BvR 1233/23 – <Rn. 20 m.w.N.>).

In Anbetracht dieser Maßstäbe verletzt die angegriffene Entscheidung des Landgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

So wird zunächst die (hilfsweise) Erwägung des Landgerichts, das Einreichen neuer ärztlicher Atteste stelle keine Änderung der Sachlage im Sinne des § 765a ZPO dar, einer verfassungsrechtlich fundierten Handhabung des Verfahrensrechts nicht gerecht. Die Entscheidung des Amtsgerichts vom 23. August 2023, die Zwangsvollstreckung unter der Auflage einstweilen einzustellen, dass sich die Beschwerdeführerin regelmäßig psychiatrisch behandeln lasse, macht erkennbar nur unter der Prämisse Sinn, dass sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin bis zum Ablauf der Vollstreckungsschutzfrist soweit verbessern werde, dass von einer dann erfolgenden Räumung keine ernsthaften Gesundheitsgefahren mehr für die Beschwerdeführerin ausgehen. Wenn sich nun aber bei Ablauf der Vollstreckungsschutzfrist aufgrund ärztlicher Atteste zeigt, dass sich der Gesundheitszustand nicht verbessert hat, liegt darin ein tauglicher Anknüpfungspunkt für eine Neubewertung der Sachlage im Sinne von § 765a Abs. 4 ZPO (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2023 – 2 BvR 1233/23 – <Rn. 24>).

Durch den Verzicht auf weitere Sachaufklärung zu einer möglichen schwerwiegenden Gesundheitsgefährdung der Beschwerdeführerin im Fall der Räumung, insbesondere in Form der Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens, hat das Landgericht das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Im zuletzt im Beschwerdeverfahren beim Landgericht vorgelegten Attest der Fachärztin für Psychia-trie und Psychotherapie vom 19. Dezember 2023 wird ausgeführt, dass sich die Beschwerdeführerin in einer sehr ausgeprägten psychisch-instabilen Verfassung befinde; die bereits depressive Stimmungslage drohe weiter zu eskalieren. Eine erhebliche Gesundheitsgefährdung in Form von latenter bis akuter Suizidalität sei nicht auszuschließen. Schon in den Attesten des Diplom-Psychologen vom 7. Juli und 4. August 2023 war die Rede davon, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür vorliege, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Räumung körperlich und seelisch zusammenbrechen werde und ein suizidales Risiko nicht ausgeschlossen werden könne. Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese Aussagen – wie der Vollstreckungsgläubiger meint – aus Gefälligkeit getätigt wurden. Dass in Anbetracht dessen das Landgericht zu dem Schluss gekommen ist, auf jegliche weitere Sachaufklärung zu verzichten, da „nach den Attesten lediglich ein geringer Grad an Wahrscheinlichkeit“ für eine Suizidalität der Beschwerdeführerin vorliege und es sich insoweit letztlich um ein „allgemeines Suizidalitätsrisiko“ handele, ist zu kurz gegriffen.