Richterablehnung vor dem Verfassungsgericht – Äußerungen über erwartetes Verfahren

10. Februar 2021 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 12. Januar 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 2006/15 entschieden, dass die Verfassungsrichterin Wallrabenstein befangen ist.

Die Ablehnung eines Richters oder einer Richterin des Bundesverfassungsgerichts nach § 19 BVerfGG setzt voraus, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters beziehungsweise Misstrauen hieran zu rechtfertigen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich parteilich oder befangen ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Es geht vielmehr darum, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit zu vermeiden.

Entscheidend ist, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände (objektiv) Anlass dazu hat, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln. Dies ist zu bejahen, wenn sein Verhalten den Schluss darauf zulässt, dass der Richter einer seiner eigenen widersprechenden Rechtsauffassung nicht mehr frei und unvoreingenommen gegenübersteht, sondern festgelegt ist.

Das Grundgesetz und das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht setzen voraus, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts politische Auffassungen haben und vertreten, ihr Amt gleichwohl unvoreingenommen und im Bemühen um Objektivität wahrnehmen. Die Äußerung des freien Wortes zu politischen Vorgängen allein führt deshalb noch nicht dazu, dass ein Verfahrensbeteiligter hierin vernünftigerweise die Festlegung auf eine bestimmte Rechtsauffassung sehen kann. Grundsätzlich ist also von der inneren Unabhängigkeit des Richters auszugehen, zu welcher ihn sein Amt verpflichtet.

Auch öffentliche und politische Äußerungen von Verfassungsrichtern begründen nicht ohne Weiteres die Besorgnis der Befangenheit. Im Einzelfall kann sich – bei Hinzutreten besonderer Umstände – jedoch aufdrängen, dass ein (innerer) Zusammenhang zwischen einer öffentlichen Äußerung und der Rechtsauffassung eines Verfassungsrichters besteht. Das gilt aus der maßgeblichen Sicht der Verfahrensbeteiligten umso mehr, je enger der zeitliche Zusammenhang zwischen der Meinungskundgabe und dem anhängigen Verfahren ist. Das Zeitmoment ist allerdings für die Beurteilung im Rahmen von § 19 BVerfGG nicht allein maßgeblich.

Die Annahme einer Besorgnis der Befangenheit erfordert stets eine Gesamtwürdigung von Inhalt, Form und Rahmen (Ort, Adressatenkreis) der jeweiligen Äußerung sowie des sachlichen und zeitlichen Bezugs zum in Rede stehenden Verfahren. Selbst wenn ein Richter eine Rechtsauffassung ständig vertritt, ist er in einem auf Änderung dieser Rechtsauffassung gerichteten Verfahren nicht ausgeschlossen. Die Besorgnis der Befangenheit erfordert ein zusätzliches besorgniserregendes Moment in der Person oder im Verhalten des Richters, das sich nur aus den Umständen des Einzelfalls ergeben kann und bei lebensnaher Betrachtung die Sorge verständlich erscheinen lässt, dass er die streitige Rechtsfrage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen wird.

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts ihre neue Rolle erst mit Antritt des Richteramts unabhängig von früheren parteipolitischen Auseinandersetzungen wahrnehmen müssen beziehungsweise können. Erst ab diesem Zeitpunkt müssen sie den besonderen Anforderungen des Richteramts in ihrem Verhalten Rechnung tragen. Das gilt auch für die Äußerung rechtlicher Auffassungen (vgl. BVerfGE 35, 246 <253>). Daher rechtfertigt die Äußerung politischer Meinungen zu einer Zeit, bevor eine Richterin oder ein Richter Mitglied des Bundesverfassungsgerichts wurde, grundsätzlich nicht die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit.

Für den Amtsantritt ist allerdings weniger auf den Zeitpunkt der (formalen) Ernennung durch den Bundespräsidenten abzustellen, denn auf den Zeitpunkt der Wahl durch den Deutschen Bundestag oder den Bundesrat. Ab diesem Zeitpunkt müssen Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts den besonderen Anforderungen ihres Amtes auch in ihrem Verhalten Rechnung tragen.

Im Interview hat sich die Richterin Wallrabenstein auch in ihrer Funktion als designierte Richterin des Bundesverfassungsgerichts zu noch nicht endgültig abgeschlossenen beziehungsweise konkret zu erwartenden Verfahren – die Möglichkeit eines Antrags auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung seitens der erfolgreichen Beschwerdeführer stand evident im Raum – öffentlich geäußert. Diesen noch vor Stellung eines Antrags nach § 35 BVerfGG getätigten Äußerungen durfte der Antragsteller bei einer Gesamtbetrachtung zumindest eine gewisse Tendenz im Hinblick auf die Beurteilung eines solchen Antrags entnehmen, die geeignet ist, Zweifel an ihrer Unparteilichkeit beziehungsweise Misstrauen hieran zu rechtfertigen.

Das gilt insbesondere für die – vom Wortlaut des PSPP-Urteils abweichende – Äußerung zu der Frage, ob die EZB ausdrücklich in einem „neuen Beschluss“ ihres Rates darlegen müsse, dass sie die Wirkungen ihres Anleihekaufprogramms abgewogen habe:

Im Interview hat die Richterin Wallrabenstein unter anderem erklärt, dass „sie nicht wisse, ob es letztlich so wichtig ist, dass die verlangte Erklärung der EZB in einem neuen ‚Beschluss‘ des Rates ergeht“. Insofern hat sie zwar – wie sie auch in ihrer dienstlichen Stellungnahme ausführt – keine eindeutige Festlegung erkennen lassen, sondern eine gewisse Offenheit ihrer Ansicht zum Ausdruck gebracht. Die weiteren Äußerungen, wonach das Bundesverfassungsgericht vielleicht nur habe sichergehen wollen, „dass die EZB sich noch einmal ernsthaft damit befasst, und dass ein Minimum an formeller Eindeutigkeit und auch eine gewisse Vollständigkeit gewährleistet wird“ und dass es dann nicht zwingend ein „Beschluss“ sein müsse, weil es letztlich „weniger auf die technische Form als den Zweck“ ankomme, legen allerdings ein Verständnis der Entscheidung vom 5. Mai 2020 durch die Richterin nahe, das jedenfalls dem Wortlaut des Urteils keine entscheidende Bedeutung beimisst.

Hinzu kommt die Äußerung der Richterin Wallrabenstein, wenn die Reaktionen von Politik, Bundesbank und EZB „in die richtige Richtung“ gingen, „könnte es im Interesse des Gerichts liegen zu sagen: Das ist schon in Ordnung; wir sehen, dass unsere Forderungen ernst genommen werden“. Diese Äußerung kann aus der Sicht des Antragstellers jedenfalls so verstanden werden, als könnte das (politische oder institutionelle) „Interesse des Gerichts“ über die korrekte Rechtsanwendung gestellt werden.

Eine Besorgnis der Befangenheit kann auch die Äußerung der Richterin Wallrabenstein auslösen, nach einem Streit solle man auch irgendwann „Entschuldigung“ sagen und „Schwamm drüber, lasst uns nach vorne blicken“. Denn diese Aussage kann aus Sicht des Antragstellers bei objektiver Betrachtung dahin gedeutet werden, dass die Richterin Wallrabenstein das Urteil vom 5. Mai 2020 für falsch halte und eine vollständige Umsetzung – gerade auch im Wege des Erlasses einer Vollstreckungsanordnung – deshalb von vornherein ablehne.

In ihrer Gesamtheit rechtfertigen die vorgenannten Äußerungen die Schlussfolgerung des Antragstellers, Richterin Wallrabenstein habe in dem in Rede stehenden Interview den Eindruck erweckt, dass sie an die Umsetzung des Urteils vom 5. Mai 2020 andere Maßstäbe anlegen wolle, als es der Senat getan hat. Es ist zumindest plausibel, wenn der Antragsteller angesichts der von der Richterin Wallrabenstein vorgenommenen Interpretation des Urteils vom 5. Mai 2020 – auch wenn sie diese in ihrer dienstlichen Stellungnahme zutreffend nur als eine von ihr für möglich gehaltene Deutung dargestellt hat – die Besorgnis hegt, dass sie in einem wichtigen Punkt bereits festgelegt sei. Hinzu kommt, dass die anderen Äußerungen den Eindruck erwecken können, als handele es sich bei der Umsetzung des Urteils und dem möglichen Erlass einer Vollstreckungsanordnung um eine im Grunde politische Frage.

An der Besorgnis der Befangenheit von Richterin Wallrabenstein ändert sich nicht deshalb etwas, weil sie die Äußerungen zu einem Zeitpunkt getätigt hat, als die Umsetzungsfrist des Urteils vom 5. Mai 2020 noch nicht abgelaufen war. Aufgrund des bisherigen Prozessverhaltens des Antragstellers und seiner nach Urteilserlass öffentlich abgegebenen Erklärungen beziehungsweise Stellungnahmen war ernsthaft zu erwarten, dass er nach Ablauf des 5. August 2020 einen Antrag auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung stellen werde. Richterin Wallrabenstein hat sich zu diesem konkreten Verfahren, namentlich der Durchsetzung des Urteils vom 5. Mai 2020, geäußert. Bei aktuellen Tagesfragen, die Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens sind oder mit großer Wahrscheinlichkeit werden können und in dem der betreffende Richter zur Entscheidung berufen ist, bedarf es jedoch besonderer Zurückhaltung.