Scharfe Kritik am Richter im Prozessschriftsatz ist keine Beleidigung

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 14. Juni 2019 zum Aktenzeichen 1 BvR 2433/17 entschieden, dass auch ein Richter in einem von ihm zu bearbeitenden Rechtsstreit scharfe Kritik an sich aushalten muss und dass solche Äußerungen keine Beleidigung darstellen.

Aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 49/2019 vom 23. Juli 2019 ergibt sich:

Grundsätzlich ist über die Frage, ob eine Äußerung als Beleidigung zu bestrafen ist oder von der Meinungsfreiheit geschützt ist, im Wege einer Abwägung zu entscheiden. Bei Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik tritt demgegenüber die Meinungsfreiheit von vornherein zurück; es bedarf hier ausnahmsweise keiner Abwägung im Einzelfall. Deshalb sind hinsichtlich des Vorliegens von Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden. Maßgeblich ist hierfür nicht einfach eine wertende Gesamtbetrachtung, sondern die Frage, ob die Äußerung einen Sachbezug hat. Nur wenn eine Äußerung der Sache nach allein auf die Diffamierung einer Person als solche, etwa im Rahmen einer Privatfehde zielt, kommt eine Beurteilung als Schmähung in Betracht; insoweit sind Anlass und Kontext der Äußerung zu ermitteln. Wenn die Äußerung hingegen – wie in der Regel – im Kontext einer Sachauseinandersetzung steht, bedarf es einer Abwägung, die die Bedeutung der Äußerung unter den konkreten Umständen des Einzelfalls gewichtet.

Vor diesem Hintergrund hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss der Verfassungsbeschwerde eines wegen Beleidigung Verurteilten stattgegeben, der die Verhandlungsführung einer Amtsrichterin mit nationalsozialistischen Sondergerichten und Hexenprozessen verglichen hatte. Dies war von den Fachgerichten unzutreffend als Schmähkritik eingeordnet worden, obwohl es sich nicht um eine reine Herabsetzung der Betroffenen handelte, sondern ein sachlicher Bezug zu dem vom Beschwerdeführer geführten Zivilprozess bestand.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war Kläger eines amtsgerichtlichen Zivilprozesses. In der Begründung eines Ablehnungsgesuchs schilderte er ausführlich seinen Eindruck, die Richterin habe einen vom Beklagten benannten Zeugen einseitig zu seinen Lasten vernommen und diesem die von ihr erwünschten Antworten gleichsam in den Mund gelegt. Er führte weiter aus, „die Art und Weise der Beeinflussung der Zeugen und der Verhandlungsführung durch die Richterin sowie der Versuch, den Kläger von der Verhandlung auszuschließen“ erinnerten stark an „einschlägige Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten“. Die gesamte Verhandlungsführung der Richterin habe „eher an einen mittelalterlichen Hexenprozess als an ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführtes Verfahren“ erinnert. Wegen dieser Äußerungen verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen. Berufung, Revision und Anhörungsrüge des Beschwerdeführers blieben erfolglos.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Entscheidungen der Gerichte verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

Die Äußerungen fallen in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit, da die polemische oder verletzende Formulierung einer Aussage diese grundsätzlich nicht dem Schutzbereich des Grundrechts entzieht.

Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gilt nicht vorbehaltlos, sondern findet nach Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, namentlich in dem der hier angegriffenen Verurteilung zugrunde liegenden § 185 StGB. Steht ein Äußerungsdelikt in Frage, so verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, gehört zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, weshalb deren Gewicht insofern besonders hoch zu veranschlagen ist. Sie erlaubt es insbesondere nicht, den Beschwerdeführer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.

Einen Sonderfall bei der Auslegung und Anwendung der §§ 185 ff. StGB bilden herabsetzende Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktreten wird. Diese für die Meinungsfreiheit einschneidende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formalbeleidigungen und Schmähkritik strenge und eigenständige Maßstäbe anzuwenden. Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehre richten sich nach dem Kriterium des sachlichen Bezugs. Solange ein Bezug zu einer Sachauseinandersetzung besteht und sich die Äußerungen damit nicht – wie etwa im Fall der Privatfehde – auf eine bloße persönliche Diffamierung oder Herabsetzung der von der Äußerung Betroffenen beschränken, sind sie nicht als Schmähung einzustufen, sondern können sie nur nach Maßgabe einer umfassenden und einzelfallbezogenen Abwägung mit der Meinungsfreiheit als Beleidigung bestraft werden. Ob ein solcher sachlicher Bezug gegeben ist, ist unter Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung zu ermitteln.

Diesen Maßstäben genügen die Entscheidungen nicht. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind schon dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind. So liegt der Fall hier; die inkriminierten Äußerungen stellen keine Schmähkritik dar. Mit seinen Vergleichen richtete sich der Beschwerdeführer gegen die Verhandlungsführung der Richterin in dem von ihm betriebenen Zivilverfahren. Dieses bildete den Anlass der Äußerungen, die im Kontext der umfangreichen Begründung eines Befangenheitsgesuchs getätigt wurden. Die Äußerungen entbehren daher insofern nicht eines sachlichen Bezugs. Sie lassen sich wegen der auf die Verhandlungsführung und nicht auf die Richterin als Person gerichteten Formulierungen nicht sinnerhaltend aus diesem Kontext lösen und erscheinen daher nicht als bloße Herabsetzung der Betroffenen. Historische Vergleiche mit dem Nationalsozialismus oder Vorwürfe einer „mittelalterlichen“ Gesinnung können besonderes Gewicht im Rahmen der Abwägung haben, begründen aber nicht schon für sich besehen die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik.

Die Ausführungen, mit denen das Landgericht eine Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB verneint, nehmen die unzutreffende Einordnung der Äußerung als Schmähung nicht zurück, sondern bauen auf ihr auf. Zwar hebt das Landgericht insoweit zutreffend das besondere Interesse des Beschwerdeführers an der Verteidigung seiner Rechtsansichten im „Kampf ums Recht“ hervor und berücksichtigt zu seinen Gunsten, dass die Äußerungen Dritten gegenüber nicht bekannt wurden. Indem es demgegenüber dann aber geltend macht, dass die gewählten Formulierungen für die Verteidigung der Rechtsansichten nicht erforderlich gewesen seien, knüpft es an seinem unzutreffenden Verständnis des Begriffs der „Schmähung“ als Ehrbeeinträchtigung, die durch die Sache nicht mehr geboten ist, an und verkennt, dass der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung seiner Meinungsfreiheit nicht auf das zur Begründung seiner Rechtsansicht Erforderliche beschränkt werden darf.