Schlussanträge zur Anerkennung einer Geburtsurkunde mit zwei Müttern

Bei der Frage der Anerkennung der Abstammung eines Kindes eines gleichgeschlechtlichen Ehepaars in der Union muss nach Ansicht von Generalanwältin Kokott im Verfahren C-490/20 vor dem Europäischen Gerichtshof ein Ausgleich zwischen der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und dem Recht auf Freizügigkeit des Kindes und seiner Eltern gefunden werden.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 62/2021 vom 15.04.2021 ergibt sich:

Konkret bedeutet dies, dass ein Mitgliedstaat die Abstammung des Kindes für die Zwecke der Ausübung der Rechte anerkennen muss, die das Unionsrecht den Unionsbürgern verleiht. Er kann sich jedoch auf seine nationale Identität und sein traditionelles Familienbild berufen, um die Anerkennung dieser Abstammung zum Zweck der Ausstellung einer Geburtsurkunde nach seinem nationalen Recht zu verweigern.

Der Rechtsstreit betrifft zwei verheiratete Frauen, von denen die eine, V.M.A., bulgarische Staatsangehörige ist und die andere die Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs besitzt. Sie haben in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat Spanien ein Kind bekommen. In der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde werden beide Frauen als „Mütter“ des Kindes bezeichnet.

V.M.A. beantragte daraufhin bei der zuständigen bulgarischen Behörde die Ausstellung einer Geburtsurkunde für ihre Tochter – ein Dokument, das für die Ausstellung eines bulgarischen Ausweises notwendig ist – wobei sie beide Frauen als Eltern angab. Die Gemeinde Sofia (Bulgarien) verlangte von ihr jedoch die Angabe, welche der beiden Ehefrauen die leibliche Mutter sei, und wies darauf hin, dass die bulgarische Mustergeburtsurkunde nur ein Feld für die „Mutter“ und ein weiteres für den „Vater“ vorsehe, und dass jedes dieser Felder nur einen Namen enthalten könne. Da V.M.A. diese Information nicht preisgab, lehnte die Behörde ihren Antrag ab.

Die Ablehnung begründete die Gemeinde Sofia damit, dass keine Angaben bezüglich der leiblichen Mutter vorlägen und dass die Eintragung von zwei Eltern weiblichen Geschlechts in einer Geburtsurkunde gegen die öffentliche Ordnung verstoße, da Bulgarien keine Ehen zwischen Personen gleichen Geschlechts erlaube. Gegen diese Entscheidung erhob V.M.A. Klage beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia).

Dieses Gericht möchte nun vom Gerichtshof wissen, ob die Weigerung der nationalen Behörden, ein bulgarisches Kind einzutragen, dessen Geburt durch eine Geburtsurkunde bescheinigt wird, die ein anderer Mitgliedstaat ausgestellt hat und in der zwei Mütter eingetragen sind, gegen das Unionsrecht verstößt.

Zunächst weist Generalanwältin Juliane Kokott darauf hin, dass entgegen der Angaben des nationalen Gerichts nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden könne, dass das Kind die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt. Dies wurde nämlich von der bulgarischen Regierung bestritten, da die bulgarische Staatsangehörigkeit zwar kraft Gesetzes von jeder Person erworben wird, von der mindestens ein Elternteil über die Staatsangehörigkeit Bulgariens verfügt, im vorliegenden Fall die Identität der leiblichen Mutter aber nicht bekannt sei.

Die Generalanwältin stellt indes fest, dass die Situation selbst dann, wenn das Kind nicht die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt und somit kein Unionsbürger ist, nicht außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liege. In diesem Fall stelle sich nämlich weiterhin die Frage, ob eine Unionsbürgerin, V.M.A., die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats mit ihrer Ehefrau Mutter eines Kindes geworden ist, von ihrem Herkunftsmitgliedstaat verlangen kann, dass er diese Situation anerkennt und eine Geburtsurkunde ausstellt, in der beide Frauen als Eltern des Kindes angegeben werden.

Generalanwältin Kokott erinnert sodann daran, dass das Unionsrecht zwar nicht den Personenstand und insbesondere die Abstammung einer Person regelt. Die Mitgliedstaaten müssten ihre Kompetenzen in diesem Bereich aber dennoch im Einklang mit dem Unionsrecht ausüben. Das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union umfasse das Recht, ein normales Familienleben sowohl im Aufnahmemitgliedstaat als auch im Herkunftsmitgliedstaat eines Unionsbürgers zu führen. Im vorliegenden Fall hätten V.M.A. und ihre Ehefrau nach spanischem Recht wirksam den Status der Eltern des Kindes erworben und führten ein tatsächliches Familienleben mit ihrer Tochter in Spanien. Die fehlende Anerkennung dieses Verwandtschaftsverhältnisses würde ernsthafte Hindernisse für das Familienleben in Bulgarien bedeuten, die V.M.A. letztlich davon abhalten könnten, in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

Die gleichen Erwägungen gälten für die Situation des Kindes, sofern es Bulgarin sei und somit den Unionsbürgerstatus genieße. Außerdem ist die Ausstellung einer Geburtsurkunde nach bulgarischem Recht Voraussetzung für die Ausstellung eines bulgarischen Ausweises: Dies abzulehnen würde daher die praktische Ausübung des Rechts des Kindes auf Freizügigkeit erheblich erschweren.

Die Generalanwältin ist daher der Ansicht, dass die Weigerung der bulgarischen Behörden, die beantragte Geburtsurkunde auszustellen, einen Eingriff in die Rechte darstellt, die das Unionsrecht V.M.A. und, soweit es die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, ihrem Kind verleiht.

Sie prüft sodann, ob die nationale Identität, auf die sich Bulgarien beruft, diese Weigerung rechtfertigen kann. Nach Angaben dieses Mitgliedstaats liege der Verstoß gegen die nationale Identität darin, dass die beantragte Geburtsurkunde von dem in der bulgarischen Verfassung verankerten „traditionellen“ Familienbild abweicht. Danach könne es zwingend nur eine Mutter (und einen Vater) für ein Kind geben. Nach Auffassung der Generalanwältin ist das Familienrecht Ausdruck des politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses eines Staates. Die Definition dessen, was als Verwandtschaftsverhältnis im Sinne des innerstaatlichen Familienrechts anzusehen sei, könne dabei als wesentliche Ausprägung dieser nationalen Identität angesehen werden. Daher sei eine Rücknahme der Prüfungsdichte durch den Gerichtshof angezeigt, damit Zuständigkeitsbereiche erhalten bleiben, in denen die materielle Regelung von Sachverhalten allein den Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Soweit dieser Kernbereich der nationalen Identität in Rede steht, könne die Berufung auf die nationale Identität daher keiner Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen werden.

Die Verpflichtung zur Anerkennung der in Spanien begründeten Verwandtschaftsverhältnisse allein für die Zwecke der Anwendung des sekundären Unionsrechts (insbesondere die Richtlinie 2004/38/EG, ABl. 2011, L 141, 1) über die Freizügigkeit der Unionsbürger ändert nach Auffassung der Generalanwältin jedoch weder die Institute der Abstammung oder der Ehe im bulgarischen Familienrecht noch verpflichtet sie zur Einführung neuer familienrechtlicher Institute. Folglich bedrohe eine solche Verpflichtung auch keine wesentliche Ausprägung der nationalen Identität, beseitige aber gleichzeitig einen großen Teil der Hindernisse für die Freizügigkeit, wie beispielsweise die Ungewissheit in Bezug auf das Aufenthaltsrecht der britischen Mutter des Kindes oder deren Möglichkeit, ungehindert mit diesem zu reisen. Angesichts der begrenzten Auswirkungen dieser Verpflichtung auf die bulgarische Rechtsordnung gehe die Weigerung, die Abstammung des Kindes von V.M.A. und ihrer Ehefrau für diese Zwecke anzuerkennen, über das hinaus, was zur Wahrung der von Bulgarien geltend gemachten Ziele erforderlich ist.

Bulgarien könne daher die Anerkennung der Abstammung des Kindes für die Zwecke der Anwendung des sekundären Unionsrechts über die Freizügigkeit der Unionsbürger nicht mit der Begründung verweigern, dass das bulgarische Recht weder die Institution der gleichgeschlechtlichen Ehe noch die Mit-Mutterschaft der Ehefrau der leiblichen Mutter eines Kindes vorsehe. Falls das Kind die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, bedeute dies insbesondere, dass Bulgarien ihm ein Ausweisdokument oder ein Reisedokument ausstellen muss, in dem V.M.A. und ihre Ehefrau als Eltern angegeben werden, um es dem Kind zu ermöglichen, mit jedem seiner Elternteile allein zu reisen.

Was dagegen die Ausstellung einer Geburtsurkunde angeht, welche die Abstammung dieses Kindes im Sinne des innerstaatlichen Familienrechts festlegt, könne Bulgarien sich auf seine nationale Identität berufen, um die Anerkennung der Abstammung des Kindes, wie sie in der spanischen Geburtsurkunde festgestellt worden ist, zu verweigern.