Schlussanträge zur gerichtlichen Zuständigkeit bei Kindesentführung

23. Februar 2021 -

Nach Ansicht von Generalanwalt Rantos sind die Gerichte eines Mitgliedstaats für die Entscheidung in einem Rechtsstreit über die elterliche Verantwortung zuständig, wenn ein Kind, das in dem Mitgliedstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht wird, wo es seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 18/2021 vom 23.02.2021 ergibt sich:

Die Gerichte der Mitgliedstaaten bleiben insoweit zeitlich unbegrenzt zuständig

P ist eine drei Jahre alte britische Staatsbürgerin. Ihre Eltern üben die elterliche Verantwortung ihr gegenüber gemeinsam aus, besitzen die indische Staatsangehörigkeit und verfügen über eine Aufenthaltserlaubnis für das Vereinigte Königreich. MCP, die Mutter des Kindes, ist im November 2017 mit dem Kind nach Indien geflüchtet und dann vorübergehend ins Vereinigte Königreich zurückgekehrt, das Kind soll aber seit April 2019 dauerhaft in Indien geblieben sein. Die Mutter soll ins Vereinigte Königreich zurückgekehrt sein, um dort zu leben, und habe das Kind bei seiner Großmutter mütterlicherseits gelassen.
Der im Vereinigte Königreich verbliebene Vater habe das Kind seit 2018 nicht gesehen und möchte, dass es bei ihm lebt, hilfsweise, dass er mit ihm Kontakte unterhalten kann. Am 26. August 2020 erhob der Vater beim High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen), eine Klage, mit der er u. a. die Rückkehr des Kindes ins Vereinigte Königreich sowie ein Umgangsrecht erwirken will. Der High Court of Justice ist der Ansicht, dass das Verhalten der Mutter sehr wahrscheinlich den Tatbestand eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens des Kindes nach bzw. in Indien erfülle, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes zum Zeitpunkt der Erhebung der Klage des Vaters aber in Indien befunden habe. Der High Court of Justice hat beschlossen, den Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob der High Court of Justice im Hinblick auf die Brüssel-IIa-Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) dafür zuständig ist, über den bei ihm gestellten Antrag zu entscheiden. Er möchte nämlich wissen, ob ein Mitgliedstaat, in dem ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bevor es widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht (oder dort zurückgehalten) wurde, wo es im Anschluss seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, gemäß dieser Verordnung zeitlich unbegrenzt zuständig bleibt.

In seinen Schlussanträgen weist Generalanwalt Athanasios Rantos zunächst darauf hin, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig ergebe, dass die Anwendung der Brüssel-IIa-Verordnung Rechtsverhältnisse betreffen könne, die einen Bezug zu Drittstaaten aufwiesen, obwohl im Wortlaut dieser Bestimmung keine Rede von Drittstaaten sei. Sodann erinnert er daran, dass die Brüssel-IIa-Verordnung in Art. 10 vorsehe, dass bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe, so lange zuständig blieben, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt habe.

Sodann weist er darauf hin, dass die Brüssel-IIa-Verordnung zwar nur die Mitgliedstaaten erwähne, aber auch Rechtsverhältnisse regele, die einen Bezug zu einem Drittstaat aufwiesen, und zwar dergestalt, dass diese Rechtsverhältnisse keine Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte dieses Drittstaats zur Folge haben könnten. Dabei sei es unerheblich, ob das betreffende Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Drittstaat begründe, da es seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem anderen Mitgliedstaat erlange.

Im Gegensatz zu der zwischen zwei Mitgliedstaaten bestehenden Situation blieben daher die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind vor seiner Entführung in einen Drittstaat gewöhnlich aufgehalten habe, zeitlich unbegrenzt zuständig (perpetuatio fori). Sei ein Kind in einen Drittstaat entführt worden, könnten die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen, wie sie im Unionsrecht vorgesehen seien, nicht gelten. Daher sei es nicht gerechtfertigt, die Zuständigkeit der Gerichte dieses Drittstaats anzuerkennen, und zwar auch dann nicht, wenn das entführte Kind in diesem Staat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt habe.

Der Generalanwalt erinnert daran, dass das Ziel der Brüssel-IIa-Verordnung zum Wohl des Kindes allgemein darin bestehe, dass das Gericht, das dem Kind räumlich am nächsten sei und daher dessen Situation und Entwicklungsstand am besten kenne, die erforderlichen Entscheidungen treffen könne. Allerdings verweist er auf die Rechtsprechung, nach der diese Verordnung darauf hinwirken solle, dass von Kindesentführungen zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen werde, und darauf, dass eine solche Entführung grundsätzlich keine Übertragung der Zuständigkeit von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe, zur Folge haben dürfe. Der Zweck, Kindesentführungen zu verhindern, falle aber nicht weg, nur weil ein Kind in einen Drittstaat verbracht werde. Daher ist der Generalanwalt der Ansicht, dass zum Schutz des Kindeswohls eine rechtswidrige Handlung, d. h. die Entführung eines Kindes durch einen Elternteil, keinen Wechsel des für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung zuständigen Gerichts bewirke.

Werde ein Kind, das die Unionsbürgerschaft besitze, in einen Drittstaat entführt, so bedeute die Anerkennung der Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für das Kind, dass jede Verbindung zum Unionsrecht gekappt werde, obwohl das Kind Opfer eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens sei. Nach Ansicht des Generalanwalts darf diese unrechtmäßige Handlung einem solchen Kind nicht die Möglichkeit nehmen, das Recht auf Prüfung der ihm gegenüber bestehenden elterlichen Verantwortung durch ein mitgliedstaatliches Gericht effektiv wahrzunehmen.

Der Generalanwalt empfiehlt dem Gerichtshof daher, zu entscheiden, dass bei Entführung eines Kindes in einen Drittstaat die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe, zeitlich unbegrenzt für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung für das Kind zuständig blieben, und zwar auch dann, wenn das Kind in diesem Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlange.