Schlussanträge zur Vorlagepflicht letztinstanzlich entscheidender Gerichte

15. April 2021 -

Generalanwalt Michal Bobek ist im Verfahren C-561/19 vor dem Europäischen Gerichtshof der Auffassung, dass der EuGH seine Rechtsprechung (die CILFIT Kriterien) zur Verpflichtung letztinstanzlicher nationaler Gerichte, um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, überdenken sollte.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 65/2021 vom 15.04.2021 ergibt sich:

Der Gerichtshof sollte feststellen, dass diese Verpflichtung von drei kumulativen Voraussetzungen abhängt: Es wird i) eine allgemeine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts aufgeworfen, ii) für die objektiv nicht nur eine vernünftigerweise mögliche Auslegung in Betracht kommt und iii) deren Beantwortung sich nicht aus der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs ableiten lässt.

Im Jahr 2017 legte der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) als letztinstanzliches nationales Gericht dem Gerichtshof in einem Rechtsstreit betreffend einen Vertrag über Reinigungsdienstleistungen in einigen italienischen Bahnhöfen ein Vorabentscheidungsersuchen vor. Im Jahr 2018 erging das Urteil des Gerichtshofs (Urt. v. 19.04.2018 – C-152/17). Die Parteien dieses Verfahrens beantragten sodann beim Consiglio di Stato, weitere Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Daher hat der Consiglio di Stato dem Gerichtshof im Jahr 2019 drei weitere Fragen vorgelegt.

Wie vom Gerichtshof erbeten, beschränken sich die Schlussanträge des Generalanwalts Michal Bobek vom 15.04.2021 ausschließlich auf die erste Frage, mit der der Consiglio di Stato wissen möchte, ob ein letztinstanzliches nationales Gericht unter Umständen wie den oben dargestellten dazu verpflichtet sei, um eine Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen. Die Frage betrifft daher die Auslegung von Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der letztinstanzliche nationale Gerichte dazu verpflichtet, den Gerichtshof in einem Verfahren um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.

Generalanwalt Bobek weist darauf hin, dass seine Schlussanträge ausschließlich Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung und nicht zur Gültigkeit einer Handlung der Union beträfen. Außerdem habe ein letztinstanzliches nationales Gericht neben der Pflicht zur Vorlage wie jedes andere nationale Gericht immer die Möglichkeit, den Gerichtshof um Unterstützung bei der Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen, wenn es dies zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Einzelfalls für notwendig erachten sollte.

Hinsichtlich des „Wesensgehalts“ der Vorlagepflicht hält Generalanwalt Bobek im Ergebnis eine Stellungnahme der Großen Kammer für erforderlich, um die derzeitige einschlägige Rechtsprechung, insbesondere die CILFIT-Kriterien1, zu überprüfen. Dementsprechend sollte die Große Kammer genau klären, welches Wesen und welchen Umfang die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe und welche Ausnahmen hiervon bestünden.

Generalanwalt Bobek schlägt dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass letztinstanzliche nationale Gerichte dazu verpflichtet sind, um eine Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen, wenn folgende drei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind: i) die Rechtssache wirft eine allgemeine Frage der Auslegung des Unionsrechts auf; ii) es kommt vernünftigerweise mehr als eine mögliche Auslegung des Unionsrechts in Betracht; iii) seine Auslegung lässt sich weder aus der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs noch aus einem einzelnen, hinreichend eindeutigen Urteil des Gerichtshofs ableiten.

Nach Ansicht des Generalanwalts sind letztinstanzliche nationale Gerichte von der Vorlagepflicht befreit, wenn nur eine dieser Voraussetzungen nicht vorliegt. Damit einhergehend sollten letztinstanzliche nationale Gerichte, wenn sie sich gegen die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens entschieden, allerdings hinreichend begründen, welche dieser Voraussetzungen nicht erfüllt sei und weshalb nicht. Beschlössen sie hingegen, ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, obwohl einschlägige Rechtsprechung existiere, sollten sie explizit die Gründe für ihre abweichende Auffassung erläutern und idealerweise darlegen, welchen Ansatz sie für richtig hielten.

Für den oben genannten Lösungsvorschlag untersucht Generalanwalt Bobek die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Thematik und zeigt ihre Nachteile auf. Insbesondere weist er darauf hin, dass die mögliche Durchsetzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV Gegenstand entweder einer Staatshaftung oder einer Vertragsverletzungsklage sein könne. Die nationalen Gerichte und der Gerichtshof selbst hätten aber in derartigen Verfahren die CILFIT-Kriterien nie in konsistenter Weise angewandt.

Generalanwalt Bobek stellt fest, es sei allgemein anerkannt, dass die Vorlagepflicht der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts durch alle Gerichte in jedem der Mitgliedstaaten sowie in der gesamten Union diene. Er stellt in diesem Zusammenhang jedoch die sogenannte „acte clair“-Ausnahme in Frage, d. h., das Fehlen eines vernünftigen Zweifels an der richtigen Anwendung des Unionsrechts in einem konkreten Fall. In logischer Hinsicht könne eine Pflicht, die zur Verwirklichung eines allgemeinen Ziels festgelegt worden sei, nicht von subjektiven Zweifeln am Ergebnis eines Einzelfalls abhängig sein. Sie müsse stattdessen davon abhängig sein, ob in der Rechtsprechung auf der nationalen Ebene eine objektive Uneinheitlichkeit bestehe, durch die die einheitliche Auslegung des Unionsrechts innerhalb der Union gefährdet werde.

Generalanwalt Bobek hebt hervor, dass sich die angestrebte Einheitlichkeit nicht auf die Ebene der einzelnen Ergebnisse in jedem Einzelfall beziehe – und sich auch zu keinem Zeitpunkt hierauf bezogen habe –, sondern auf die Ebene der anzuwendenden Rechtsvorschriften. Daraus folge, dass selbst bei einem hinreichenden Maß an Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften (Auslegung) grundsätzlich Unterschiede in Bezug auf die konkreten Ergebnisse (Anwendung) bestehen könnten.

Im Übrigen sei es schwierig geworden, einen Bereich zu finden, in dem die Unterstützung des Gerichtshofs bei der Auslegung nicht erforderlich wäre. Aktuell sei eine beträchtliche Steigerung der Anzahl von Vorabentscheidungsersuchen festzustellen, während die justiziellen Ressourcen des Gerichtshofs nicht unbegrenzt seien. Vor diesem Hintergrund erscheine es weder handhabbar noch gerechtfertigt, darauf zu bestehen, dass letztinstanzliche nationale Gerichte in jedem Fall, in dem es irgendeinen vernünftigen Zweifel gebe, ein Vorabentscheidungsersuchen einreichten.

1 In dem grundlegenden Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT (C-283/81), hat der Gerichtshof drei Ausnahmen von der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte festgelegt. Diese Ausnahmen liegen vor, wenn 1) die Frage in dem konkreten Verfahren unerheblich ist, wenn 2) bereits einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs existiert („acte éclairé“) und wenn 3) das Unionsrecht derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt („acte clair“).