Sexuelle Identität in Art. 3 Abs. 2 GG

03. November 2019 -

Als Reaktion auf das nationalsozialistische Unrechtsregime, das die Rechtsgleich­heit der Menschen ausschloss und seine Willkürherrschaft auf dieser Ungleichbe­handlung aufbaute, hat der Parlamentarische Rat neben dem allgemeinen Gleich­heitssatz des Artikels 3 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) auch spezielle Diskri­minierungsverbote in Artikel 3 Absatz 3 GG aufgenommen. Die dort aufgezähl­ten persönlichen Merkmale scheiden somit als Anknüpfungspunkt staatlicher Dif­ferenzierung grundsätzlich aus. Dieser Katalog von Merkmalen soll dabei insbe­sondere den von den Nationalsozialisten verfolgten Minderheiten Rechnung tra­gen.

Aus der Drucksache 19/13123 des Deutschen Bundestages (19. Wahlperiode) vom 12.09.2019 ergibt sich:

In den Text des Grundgesetzes nicht aufgenommen wurden jedoch das Merkmal der Behinderung und das Merkmal der sexuellen Identität, obwohl behinderte und homosexuelle Menschen schwerer Verfolgung durch die Nationalsozialisten aus­gesetzt waren. Der erst 1994 aufgehobene § 175 StGB, der einvernehmliche homosexuelle Handlungen von Männern unter Strafe stellte, zeigt zudem, dass etwa die staatliche Diskriminierung Homosexueller auch in der Bundesrepublik Deutschland noch lange fortbestand. Noch 1957 und 1973 bestätigte das Bundes­verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Straftatbestandes (Urteil des Ersten Senats vom 10. Mai 1957 – 1 BvR 550/52, BVerfGE 6, 389; Beschluss vom 2. Oktober 1973 – 1 BvL 7/72, BVerfGE 36, 41).

Das Merkmal der Behinderung wurde im Zuge der Überarbeitung des Grundge­setzes nach der Wiedervereinigung 1994 ergänzt. Das Merkmal der sexuellen Identität fand jedoch nicht die nötige Zweidrittelmehrheit im Bundestag, obwohl sich eine Mehrheit der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat dafür ausgesprochen hatte, es in Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 GG aus­drücklich zu nennen (Bundestagsdrucksache 12/6000, S. 54).

Inzwischen hat sich die rechtliche Situation von Lesben, Schwulen und Bisexuel­len stark verbessert. So verbietet das europäische Recht in Artikel 21 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta sowie Artikel 10 AEUV eine Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung. Auch mehrere Landesverfassungen enthalten ein Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Identität (Landesverfassung von Berlin Artikel 10 Absatz 2, Landesverfassung von Brandenburg Artikel 12 Absatz 2, Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Artikel 2 und Landesverfassung des Saarlandes Artikel 12) bzw. der sexuellen Orientierung (Artikel 2 Absatz 3 der Verfassung des Freistaates Thüringen).

Dennoch stößt die Lebensführung etwa von Homosexuellen noch immer auf Vor­behalte, was sich in rechtlicher und sozialer Diskriminierung niederschlägt. Diese kann viele Ausprägungen haben und reicht von sozialem Boykott bis zur Verächt­lichmachung, von rechtlicher Benachteiligung bis zu offener Gewalt. Das allge­meine Diskriminierungsverbot bietet dabei keinen ausreichenden Schutz von Les­ben, Schwulen und Bisexuellen. Eine Anknüpfung an ihre sexuelle Identität un­terliegt aufgrund der fehlenden Aufzählung in Artikel 3 Absatz 3 zunächst nicht den strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen des Artikels 3 Absatz 3 GG, sondern lediglich dem bloßen Willkürverbot nach Artikel 3 Absatz 1 GG. Aller­dings legt das Bundesverfassungsgericht seit den 1990er Jahren einen umso stren­geren Prüfungsmaßstab an, je mehr der Grund für Differenzierung eine Nähe zu dem Katalog von Merkmalen des Artikels 3 Absatz 3 Satz 1 GG aufweist (vgl. BVerfGE 124, 199 – Ungleichbehandlung bei Hinterbliebenenversorgung; 126, 400 – steuerliche Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften). Eine Aufnahme des Merkmals der sexuellen Identität als spezielles Diskriminierungs­merkmal würde den Bereich zudem der Disposition des einfachen Gesetzgebers entziehen.

Differenzierungen aufgrund der geschlechtlichen Identität sind hingegen bereits den strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen des Artikels 3 Absatz 3 GG un­terworfen, da auch die geschlechtliche Identität eines Menschen unter das Merk­mal Geschlecht fällt (s. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16, Rn. 56 f.).