Sozialgericht entscheidet verfassungswidrig über Kosten zu Untätigkeitskage

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 05. Mai 2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 1468/18 entschieden, dass eine Kostengrundentscheidung des Sozialgerichts Schwerin verfassungswidrig ist.

Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende –. Er legte gegen einen Bescheid des beklagten Jobcenters fristgemäß Widerspruch ein. Mehr als vier Monate später erhob er, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte, Untätigkeitsklage. Daraufhin hob das Jobcenter den Bescheid auf, gab dem Widerspruch im vollen Umfang statt und gewährte dem Beschwerdeführer weitere Leistungen. Die Prozessbevollmächtigte erklärte nun den Rechtsstreit für erledigt und beantragte, der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.

Daraufhin teilte das Gericht dem Beschwerdeführer mit, er möge den Bescheid vorlegen und teilte mit, es überlege zu beschließen, dass Kosten nicht zu erstatten seien. Für die Untätigkeitsklage habe von Anfang an das Rechtsschutzbedürfnis gefehlt. Es sei verwertbares Vermögen vorhanden, das einer weiteren Leistungsverpflichtung des Jobcenters trotz erfolgreichem Widerspruchsverfahren entgegenstehe. Das Schreiben blieb ohne Reaktion der Beteiligten.

Mit dem in der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss lehnte das Sozialgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Erstattung der Kosten seiner Untätigkeitsklage ab. Zur weiteren Begründung verwies es auf das zuvor versandte gerichtliche Schreiben.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seien bei einer Untätigkeitsklage die Kosten der beklagten Behörde zur Last zu legen, wenn diese ohne hinreichenden Grund über einen Antrag nicht binnen drei Monaten entschieden habe. Hier habe das Jobcenter solche Gründe nicht benannt und ihm seien keine Gründe bekannt. Das Gericht habe den Anspruch auf Kostenerstattung nur verneint, weil er mit dem Bescheid keine höheren Leistungen erreichen könne und daher das Rechtsschutzbedürfnis fehle. Damit habe das Gericht jedoch eklatant verkannt, dass der Streitgegenstand einer Untätigkeitsklage nur die Bescheidung des Widerspruchs sei, nicht aber die Verurteilung zu einer Leistung.

Die angegriffene Entscheidung des Sozialgerichts verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung, wenn sie unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen; schuldhaftes Handeln ist nicht erforderlich und die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein genügt nicht. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise verkannt wird. Davon kann gesprochen werden, wenn die Auffassung des Gerichts jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 87, 273 <278 f.>; 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>; stRspr).

Hier hat das Sozialgericht grundlegend den Maßstab verkannt, den es seiner Entscheidung zugrunde zu legen hatte. Die Untätigkeitsklage richtet sich allein auf Bescheidung und nicht auf den Erfolg in der Sache.

Die Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 1 SGG zielte hier auf den Erlass eines Widerspruchsbescheids, der ohne zureichenden Grund nicht binnen drei Monaten (§ 88 Abs. 2 SGG) beschieden worden war. Handelt die Behörde doch, ist das Verfahren für erledigt zu erklären (§ 88 Abs. 1 Satz 3 SGG). Das Gericht entscheidet dann auf Antrag über die Kosten (§ 193 SGG), die dem Kläger grundsätzlich zu erstatten sind, wenn ein hinreichender Grund dafür fehlte, fristgemäß zu bescheiden. Anders ist dies nur, wenn ein zureichender Grund für die Untätigkeit vorliegt und dieser dem Kläger mitgeteilt wurde oder ihm bekannt war (vgl. B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig, SGG, 12. Aufl. 2017, § 193 Rn. 13c m.w.N.); das war hier aber nicht der Fall.

Über den Antrag auf Kostenerstattung hätte das Sozialgericht folglich allein nach Maßgabe des Prozessrechts entscheiden müssen. Dabei spielen materielle Erfolgsaussichten in der Sache keine Rolle. Gegenstand einer Untätigkeitsklage ist vielmehr grundsätzlich nur die Bescheidung eines Antrags, nicht aber die Prüfung der materiellen Voraussetzungen eines Anspruchs oder die Bewilligung einer Leistung (vgl. BSG, Beschluss vom 16. Oktober 2014 – B 13 R 282/14 B -, juris, Rn. 6, unter Verweis auf BVerfGK 18, 360 <364>). Das hat das Sozialgericht hier ganz offensichtlich und ohne jeden erkennbaren Grund zum Nachteil des Beschwerdeführers verkannt und insoweit willkürlich entschieden.

Die Entscheidung des Sozialgerichts wäre zudem auch dann willkürlich, wenn der fehlerhafte Maßstab gelten würde. Das Gericht hat gegen den Beschwerdeführer entschieden, obwohl in der Sache das Jobcenter seinem Widerspruch vollumfänglich abgeholfen hatte. Das war dem Gericht ausweislich der Unterlagen auch bekannt. Wenn es dennoch von offensichtlich fehlenden Erfolgsaussichten in der Sache ausgeht, ist dies objektiv nicht vertretbar.