Hintergrund: Statusfeststellung und Ehrenamt im Sozialversicherungsrecht
In Deutschland entscheidet oft ein Statusfeststellungsverfahren nach § 7a SGB IV darüber, ob jemand selbstständig tätig oder als Arbeitnehmer einzustufen ist. Dies ist praxisrelevant für Honorarkräfte, freie Mitarbeiter und auch ehrenamtliche Funktionsträger in Vereinen. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass eine vermeintlich selbständige (oder ehrenamtliche) Tätigkeit tatsächlich scheinselbstständig – also in Wahrheit ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis – war, können erhebliche Sozialversicherungsbeiträge nachgefordert werden. Insbesondere Vereine und Verbände greifen oft auf Aufwandsentschädigungen zurück, um ehrenamtliche Vorstände zu vergüten. Doch die bloße Bezeichnung als „Ehrenamt“ schützt nicht vor Sozialversicherungspflicht, wie ein aktuelles Urteil zeigt.
LSG-Urteil: Ehrenamtlicher Verbandspräsident als sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat im Oktober 2025 mit Urteil (Az. L 14 BA 39/24) entschieden, dass der ehemalige Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV), Rechtsanwalt Ulrich Schellenberg, während seiner Amtszeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Damit bestätigte das LSG ein vorinstanzliches Urteil des Sozialgerichts Berlin und wies die Berufung Schellenbergs zurück. Der DAV selbst war dem Verfahren als Beigeladener beteiligt. Die schriftlichen Urteilsgründe lagen bei Bekanntwerden des Urteils noch nicht vor, doch die Entscheidung dürfte weitreichende Auswirkungen auf viele Verbände und Stiftungen haben. Denn sie verdeutlicht, dass auch hochrangige Verbandsämter mit Aufwandsentschädigung unter bestimmten Umständen als abhängige Beschäftigung einzustufen sind – Ehrenamt hin oder her.
Praxisfall DAV: In Schellenbergs Fall hatte der DAV-Präsident für seine Tätigkeit eine Vergütung (deklariert als Honorar/Aufwandsentschädigung) erhalten. Die Deutsche Rentenversicherung überprüfte im Rahmen einer Statusfeststellung diesen Sachverhalt. Das Ergebnis: Trotz des offiziell ehrenamtlichen Charakters lag eine abhängige Beschäftigung vor, was Versicherungspflicht in der Renten- und Arbeitslosenversicherung auslöste. Auch eine ehemalige Vizepräsidentin des DAV (Pia Eckertz-Tybusseker) wurde bereits in erster Instanz vom SG Berlin im April 2024 als sozialversicherungspflichtig eingestuft. Diese hatte monatlich eine Aufwandsentschädigung von zunächst 4.000 €, später 1.500 € plus Auslagenerstattung bezogen. Die Intention des Verbands war zwar, Einkommenseinbußen in ihrer Kanzlei auszugleichen und das Ehrenamt attraktiver zu machen. Dennoch bewertete die Rentenversicherung diese Konstruktion als Beschäftigungsverhältnis – mit der Folge, dass Beiträge zur gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung abzuführen waren (in jenem Fall bestand keine Pflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung, wohl wegen anderweitiger Absicherung).
Kriterien: Wann liegt Scheinselbstständigkeit vor?
Die Entscheidung des LSG stützt sich – nach dem, was bisher bekannt ist – auf altbekannte Abgrenzungskriterien zwischen selbständiger Tätigkeit und Beschäftigung. Auch ohne schriftliche Urteilsgründe lassen sich die Kernpunkte bereits aus dem erstinstanzlichen Urteil und vergleichbarer Rechtsprechung ableiten:
- Kein unternehmerisches Risiko: Die betroffene Person trägt kein eigenes wirtschaftliches Risiko und erbringt ihre Tätigkeit nicht in Erwartung eines Unternehmergewinns, sondern erhält eine feste Vergütung (hier: regelmäßige Aufwandsentschädigung). Investitionen oder Betriebskosten trägt sie nicht selbst – im DAV-Fall nutzte der Präsident/die Vizepräsidentin lediglich die bestehende Kanzlei-Infrastruktur, ohne eigens eine neue Betriebsstätte für die Verbandsarbeit zu schaffen.
- Eingliederung in die Organisationsstruktur: Trotz ehrenamtlicher Stellung ist die Person in die Arbeitsorganisation des Vereins eingegliedert. Entscheidungsbefugnisse höherer Gremien (Vorstand, Präsidium, Delegiertenversammlung) können ihre Tätigkeit beeinflussen. Im DAV-Beispiel unterlagen Präsident und Vizepräsidentin Weisungen bzw. Vorgaben durch Vorstand und Mitgliederversammlung des Verbands. Dass die laufenden Geschäfte von einer hauptamtlichen Geschäftsführung erledigt wurden, änderte nichts an der rechtlichen Weisungsgebundenheit gegenüber den zuständigen Gremien.
- Weisungsgebundenheit im weiteren Sinne: Zwar mag es an konkreten Einzelweisungen zu Arbeitszeit oder -ort fehlen – insbesondere bei hochrangigen Verbandsfunktionen genießt man nach außen hin große Freiheiten. Doch für die sozialversicherungsrechtliche Statusbeurteilung reicht bereits eine rechtliche Weisungsbindung und die Möglichkeit der Überordnung aus. Die Tätigkeit gilt als nicht im Wesentlichen frei gestaltet, wenn z.B. satzungsmäßig höhere Organe Beschlüsse fassen können, die die Person umsetzen muss, oder sie sogar abberufen werden kann. Das LSG/SG betonte hier den Begriff der „Eingliederung in den satzungsmäßigen Betrieb“: Selbst ohne tägliche Weisungen ist die Funktion in die von der Satzung vorgegebene Hierarchie eingegliedert. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in diesem Kontext vor einer „Schönwetterselbstständigkeit“ gewarnt – will heißen: Man darf nicht nur in konfliktfreien Zeiten auf die fehlende Einmischung von oben schauen. Entscheidend ist, dass im Bedarfsfall Weisungen erteilt oder missliebige Entscheidungen überstimmt werden könnten.
- Höhe der Vergütung: Ein weiteres Indiz ist die Höhe regelmäßiger Zahlungen. Werden pauschale Vergütungen gewährt, die deutlich über einer bloßen Auslagenentschädigung liegen, spricht dies gegen echtes Ehrenamt. In früheren Urteilen hat das LSG Berlin-Brandenburg etwa festgehalten, dass Zahlungen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze ein starkes Indiz gegen eine nur ehrenamtliche Tätigkeit sind. Im DAV-Fall waren die Vergütungen vierstellig pro Monat – was auf eine echte Gegenleistung für Arbeitskraft schließen lässt, nicht nur auf Aufwandsdeckung.
Zusammenfassend gilt: Persönliche Abhängigkeit (im Sinne von Weisungsrecht und Integration in eine fremde Arbeitsorganisation) und fehlendes Unternehmertum (kein eigenes Kapitalrisiko, keine eigene Betriebsorganisation für die Tätigkeit) sind die Hauptmerkmale einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Auf die vertragliche Bezeichnung oder das Prestige der Position kommt es nicht entscheidend an – maßgeblich ist das Gesamtbild der tatsächlichen Tätigkeit.
Folgen und Empfehlungen für die anwaltliche Beratungspraxis
Für Rechtsanwälte, die Unternehmen, Vereine oder Freiberufler beraten, lassen sich aus diesem Urteil und der jüngeren Rechtsprechung zum Statusfeststellungsverfahren mehrere praxisnahe Hinweise ableiten:
- Ehrenamtliche Vorstände im Blick behalten: Wird ein Vereinsvorstand oder anderes Organ vergütet, ist höchste Vorsicht geboten. Schon pauschale Aufwandsentschädigungen in beträchtlicher Höhe können als sozialversicherungspflichtiges Arbeitsentgelt gewertet werden. Anwälte sollten Mandanten (Vereine, Verbände) darauf hinweisen, dass „bezahlte Ehrenämter“ häufig scheinselbstständig sind. Die Satzungshoheit eines Vereins schützt nicht davor, dass Sozialgerichte im Zweifel ein faktisches Beschäftigungsverhältnis annehmen.
- Statusfeststellungsverfahren nutzen: Bei ungeklärtem Status von freien Mitarbeitern oder Honorarkräften empfiehlt es sich, frühzeitig ein Statusfeststellungsverfahren bei der Clearing-Stelle der Deutschen Rentenversicherung zu beantragen. Dieses Verfahren nach § 7a SGB IV schafft Rechtssicherheit. Wird der Betreffende als Selbstständig anerkannt, hat man einen Bescheid in der Hand. Kommt heraus, dass Versicherungspflicht besteht, lässt sich immer noch rechtzeitig reagieren – etwa durch vertragliche Neugestaltung oder freiwillige Beitragszahlung. Wichtig: In der Beratung sollte darauf hingewiesen werden, dass bei falscher Einstufung ohnehin im Rahmen einer Betriebsprüfung (§ 28p SGB IV) Jahre später Beiträge nachgefordert werden können. Dann ist es besser, das Heft des Handelns früh selbst in der Hand zu haben.
- Nachzahlungsrisiken und Haftung: Wird eine Scheinselbstständigkeit erst im Nachhinein aufgedeckt, drohen hohe Nachforderungen an Sozialbeiträgen (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile für bis zu 4 vergangene Jahre, ggf. plus Säumniszuschläge). Arbeitgeber haften in diesen Fällen in der Regel für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Allerdings sind Arbeitnehmer gesetzlich relativ gut geschützt: Wurden ihre Beiträge nicht ordnungsgemäß einbehalten, dürfen sie rückwirkend meist nicht zur Kasse gebeten werden. Im vorliegenden LSG-Fall wurde betont, dass der Betroffene selbst aufgrund einer speziellen Regelung keine eigenen Nachzahlungen leisten muss. Die finanzielle Last trifft primär den „vermeintlichen Arbeitgeber“ – hier also den Verband. Für Mandanten heißt das: Die Gefahr liegt vor allem bei dem Unternehmen/Verein, der einen Mitarbeiter falsch einstuft. Dieses Risiko sollte in der Beratung deutlich gemacht werden.
- Steuerliche Implikationen beachten: Scheinselbstständigkeit hat nicht nur sozialversicherungs-, sondern auch steuerrechtliche Folgen. Zahlungen, die zunächst als Honorar mit Umsatzsteuer behandelt wurden (z.B. ein Selbstständiger stellt Rechnungen mit MwSt.), können nachträglich als Lohn qualifiziert werden. Im LSG-Beispiel hatte der DAV auf die Vergütungen Umsatzsteuer gezahlt – bewertet das Gericht diese nun als Gehalt, kann der Verein bereits gezahlte Umsatzsteuer vom Finanzamt zurückfordern. Umgekehrt könnten aber Lohnsteuerforderungen entstehen. Anwälte sollten Mandanten daher ganzheitlich beraten: Bei Statusänderung sind gegebenenfalls Verträge anzupassen, Lohnsteuer-Anmeldungen nachzuholen und Umsatzsteuerliche Korrekturen vorzunehmen.
- Vertragsgestaltung und Prävention: Bei der Gestaltung von Verträgen mit freien Mitarbeitern oder Organpersonen (Vorstände, Geschäftsführer auf Honorarbasis etc.) sollte klar zwischen echten Dienstverhältnissen und freier Mitarbeit differenziert werden. Wenn eine sozialversicherungsfreie Ehrenamts- oder Honorar-Konstellation gewünscht ist, muss dies durch die Praxis untermauert sein: wirklich nur geringfügige Pauschalen, flexible Auftragsgestaltung, keine Eingliederung in feste Strukturen, ggf. zeitliche Befristung und keine umfassenden Weisungsrechte. Andernfalls ist es unter Umständen besser, offen ein Anstellungsverhältnis zu begründen, um Rechtssicherheit zu haben. Die Kosten der Sozialversicherung mögen zunächst abschrecken, sind aber kalkulierbar – im Gegensatz zu unkalkulierbaren Nachzahlungen bei einer Scheinselbstständigkeit.
Das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom Oktober 2025 (Az. L 14 BA 39/24) führt Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten anschaulich vor Augen, dass Titel und Etiketten zweitrangig sind: Entscheidend ist das gelebte Gesamtbild der Tätigkeit. Auch ein Präsident oder Vorstandsmitglied kann sozialversicherungsrechtlich ein „ganz normaler Arbeitnehmer“ sein, wenn er in die Verbandsorganisation eingebunden ist und hierfür eine nennenswerte Vergütung erhält. Für die anwaltliche Beratungspraxis lautet der Rechtstipp daher: Vorsicht bei Scheinselbstständigkeit! Im Zweifel sollte der Status lieber einmal zu oft geprüft werden – sei es durch präventive Vertragsgestaltung oder via Statusfeststellungsverfahren – als am Ende kostspielige Überraschungen zu erleben.