Streit über Verfassungsmäßigkeit der Thüringer Verordnung zum Teil-Lockdown (Novemberverordnung): Divergenzvorlage ans BVerfG

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof in Weimar hat am 19.05.2021 zum Aktenzeichen VerfGH 110/20 – erstmals in seiner Geschichte – beschlossen, dem BVerfG ein Verfahren vorzulegen, und dieses gebeten, vier verfassungsrechtliche Fragen zu beantworten. Es handelt sich um eine so bezeichnete Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG, die nur in sehr seltenen Fällen erforderlich ist, und zwar dann, wenn das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Verfassungsgerichts eines anderen Landes abweichen will.

Aus der Pressemitteilung des Thür. VerfGH Nr. 5/2021 vom 20.05.2021 ergibt sich:

Zum Sachverhalt:

Die Antragstellerin, die Fraktion der Alternative für Deutschland im Thüringer Landtag, hat die Thüringer Verordnung über außerordentliche Sondermaßnahmen zur Eindämmung einer sprunghaften Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 (Thüringer SARS-CoV-2-Sondereindämmungsmaßnahmenverordnung – ThürSARS-CoV-2-Sonder-EindmaßnVO) vom 31. Oktober 2020 (kurz: Novemberverordnung) im Wege eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nach Art. 80 Abs. 1 Nr. 4 ThürVerf i. V. m. §§ 11 Nr. 4, 42 ThürVerfGHG angegriffen.

Die Antragstellerin hält die von ihr angegriffene Verordnung für sowohl formell als auch materiell mit der Thüringer Verfassung unvereinbar und deshalb für nichtig. Sie ist der Auffassung, dass angesichts des Ausmaßes der zur Eindämmung des Corona-Virus erlassenen Ge- und Verbote die Verordnungsermächtigung in § 32 i.V.m. § 28 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG), auf die sich die Novemberverordnung stützt, nicht mehr ausreiche.

Verfassungsrechtliche Problematik:

Wird ein Exekutivorgan (zweite Gewalt) gesetzgeberisch tätig, benötigt es eine Befugnis der Legislative (erste Gewalt), in der hinreichend bestimmt wird, wozu und in welchem Ausmaß im Einzelnen die Exekutive ermächtigt wird. Aus dem Rechtsstaats- und auch dem Demokratieprinzip folgt, dass das Parlament als unmittelbar demokratisch legitimierter Gesetzgeber bestimmte Gegenstände der Rechtssetzung nicht der Exekutive überlassen darf und selbst über alle wesentlichen Fragen des Gemeinwesens zu entscheiden hat. Zu den wesentlichen Fragen des Gemeinwesens zählen in der Regel solche des grundrechtsrelevanten Bereichs, also jene, die wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind.

Die Novemberverordnung stützt sich auf die Ermächtigungsgrundlage in § 32 i.V.m. § 28 IfSG. Es steht außer Zweifel, dass die Novemberverordnung – ebenso wie die ihr zeitlich vorausgehenden und nachfolgenden Verordnungen – zu Grundrechtseingriffen ermächtigt, die nach ihrer Reichweite, ihrer Intensität und ihrer zeitlichen Dauer in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ohne Beispiel sind, und sie folglich wesentliche Fragen des Gemeinwesens zum Gegenstand hat.

In Literatur und Rechtsprechung waren bereits vor Erlass der Novemberverordnung erhebliche Zweifel formuliert worden, wonach die Ermächtigungsgrundlage in § 32 i.V.m. § 28 IfSG für die in den einzelnen Coronaschutzverordnungen der Länder angeordneten Grundrechtseinschränkungen nicht bzw. in Anbetracht der zeitlichen Dauer der Maßnahmen nicht mehr ausreichend sei. Der Bundesgesetzgeber hat hierauf reagiert und mit § 28a IfSG am 18. November 2020 eine spezielle Ermächtigungsgrundlage geschaffen, die aber bei Erlass der Novemberverordnung am 31. Oktober 2020 noch nicht bestand.

Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs:

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof ist mehrheitlich zu der Rechtsauffassung gelangt, dass die im Zeitpunkt des Verordnungserlasses allein geltende Bestimmung der Generalklausel des § 28 IfSG für einen Übergangszeitraum und auch gerade noch für die Novemberverordnung als Ermächtigungsgrundlage ausreichend war. In seinem Urteil vom 26. März 2021 (Az.: LVG 25/20) hat jedoch das Landesverfassungsgericht in Sachsen-Anhalt entschieden, dass einzelne Regelungen der dortigen, sich auf § 28 IfSG stützende Coronaverordnung nicht von der gesetzlichen Grundlage gedeckt und deshalb nichtig seien und einen etwaigen Übergangszeitraum für Ausnahmen von den Anforderungen an die Regelungsdichte einer Verordnungsermächtigung jedenfalls bereits im September 2020 als verstrichen angesehen.

Da sich der Thüringer Verfassungsgerichtshof aus diesem Grund an seiner konkreten Entscheidung in der Sache gehindert sieht, hat er das Verfahren ausgesetzt und holt zunächst nach Art. 100 Abs. 3 Satz 1 GG eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den zwischen den Landesverfassungsgerichten divergierenden Rechtsauffassungen ein. Er hat hierbei dem Bundesverfassungsgericht u.a. die Fragen vorgelegt, ob es mit dem Parlamentsvorbehalt und der darauf beruhenden Wesentlichkeitstheorie vereinbar war, bei Bestehen einer Gefährdungslage mit erheblichen prognostischen Unsicherheiten für eine Übergangszeit die infektionsschutzrechtliche Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als ausreichende gesetzliche Ermächtigung anzusehen, und – falls diese Frage bejaht wird – ob diese Übergangszeit auch dann noch nicht als überschritten angesehen werden kann, wenn seit Ausbruch der Pandemie bereits über ein halbes Jahr vergangen, der parlamentarische Gesetzgeber jedoch untätig geblieben ist, indes hinreichend deutlich wird, dass er bereits konkret beabsichtigt, in naher Zukunft eine umfassende und weitreichende Grundlage mittels entsprechender Gesetzesänderung zu schaffen.

Ergänzend hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof noch zwei weitere Fragen in seine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht aufgenommen.

Der Beschluss ist mit 6:3 Stimmen ergangen.

Da der Aussetzungs- und Vorlagebeschluss lediglich eine Zwischenentscheidung darstellt und das Verfahren nicht abschließt, hat der Verfassungsgerichtshof den für den 16. Juni 2021 anberaumten Verkündungstermin aufgehoben und den Verfahrensbeteiligten den Beschluss zugestellt.