Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalt von Filterzigaretten

22. Februar 2022 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 22.02.2022 zum Aktenzeichen C-160/20 zu Filterzigaretten entschieden, dass das von der ISO zur Bestimmung der Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid festgelegte Verfahren, auf das das Unionsrecht verweist, gültig ist und Zigarettenherstellern entgegengehalten werden kann.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 29/22 vom 22.02.2022 ergibt sich:

Da dieses Verfahren jedoch nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, kann es den Einzelnen, wie Vereinigungen für den Schutz der Gesundheit der Verbraucher, grundsätzlich nicht entgegengehalten werden.

Im Juli und August 2018 stellten die Stichting Rookpreventie Jeugd (Stiftung zur Prävention des Rauchens bei Jugendlichen, Niederlande) und 14 weitere Einrichtungen (im Folgenden: Kläger) bei der Nederlandse Voedsel- en Warenautoriteit (Niederländische Behörde für Lebensmittel- und Produktsicherheit) einen Antrag auf Erlass einer Anordnung. Die Kläger beantragten bei dieser Behörde zum einen, dafür Sorge zu tragen, dass die den Verbrauchern in den Niederlanden angebotenen Filterzigaretten bei bestimmungsgemäßer Verwendung die in der Richtlinie 2014/401 festgelegten Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid einhalten, und zum anderen, gegenüber den Herstellern, Importeuren und Vertreibern von Tabakerzeugnissen anzuordnen, Filterzigaretten, die diese Emissionswerte nicht einhalten, vom Markt zu nehmen.

Gegen den Bescheid über die Ablehnung dieses Antrags legten die Kläger beim Staatssekretär Beschwerde ein. Nach Zurückweisung dieser Beschwerde erhoben sie bei der Rechtbank Rotterdam (Gericht Rotterdam, Niederlande) Klage. Sie machten geltend, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/402 nicht die Anwendung eines bestimmten Verfahrens zur Messung der Emissionswerte vorschreibe und dass u. a. aus verschiedenen Studien hervorgehe, dass ein anderes Messverfahren („Canadian Intense“ genannt) zur Bestimmung der genauen Emissionswerte für Filterzigaretten bei bestimmungsgemäßer Verwendung angewandt werden müsste.

Das Gericht Rotterdam ersuchte den Gerichtshof um Vorabentscheidung betreffend u. a. die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Transparenzgrundsatz3, auf mehrere Vorschriften des Unionsrechts4 sowie auf das Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung des Tabakgebrauchs5.

Mit seinem Urteil hat der Gerichtshof (Große Kammer) die Gültigkeit dieser Bestimmung bestätigt, indem er festgestellt hat, dass sie namentlich mit den Grundsätzen und Bestimmungen des Unionsrechts und des Völkerrechts in Einklang steht, auf die sich das Vorabentscheidungsersuchen bezieht6.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof hat erstens festgestellt, dass nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 die durch diese Richtlinie festgelegten Emissionshöchstwerte für Zigaretten, die in den Mitgliedstaaten in Verkehr gebracht oder hergestellt werden sollen, in Anwendung der Messverfahren zu messen sind, die sich aus den ISO-Normen ergeben, auf die diese Bestimmung verweist. Diese verweist nämlich zwingend auf diese ISO-Normen und erwähnt kein anderes Messverfahren.

Zweitens hat der Gerichtshof zunächst die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Transparenzgrundsatz geprüft. Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese Bestimmung zwar auf ISO-Normen verweist, die nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden, aber keine Beschränkung des Zugangs zu diesen Normen vorsieht, und zwar auch nicht, indem sie diesen Zugang von der Stellung eines Antrags auf Zugang nach den Bestimmungen über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der Unionsorgane7 abhängig machen würde. Was sodann die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf die Verordnung Nr. 216/20138 betrifft, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die materielle Rechtmäßigkeit dieser Richtlinie nach der Rechtsprechung nicht anhand dieser Verordnung geprüft werden kann. Was schließlich die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf Art. 297 Abs. 1 AEUV9 in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit betrifft, so hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass der Unionsgesetzgeber unter Berücksichtigung des weiten Ermessens, über das er im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten verfügt, wenn seine Tätigkeit politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen erfordert und wenn er komplexe Beurteilungen und Prüfungen vornehmen muss, in den von ihm erlassenen Rechtsakten auf technische Normen verweisen kann, die von einer Normungsorganisation wie der Internationalen Organisation für Normung (ISO) festgelegt wurden.

Jedoch hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass der Verweis auf solche Normen klar, bestimmt und in seinen Auswirkungen vorhersehbar ist, damit sich die Betroffenen bei unter das Unionsrecht fallenden Tatbeständen und Rechtsbeziehungen orientieren können. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass im vorliegenden Fall aufgrund dessen, dass der Verweis in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 auf die ISO-Normen diesem Erfordernis entspricht und diese Richtlinie im Amtsblatt veröffentlicht wurde, der bloße Umstand, dass diese Bestimmung auf ISO-Normen verweist, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht veröffentlicht worden sind, die Gültigkeit dieser Bestimmung nicht in Frage stellen kann.

Allerdings hat der Gerichtshof, was die Frage anbelangt, ob ISO-Normen den Einzelnen entgegengehalten werden können, darauf hingewiesen, dass diese Normen, wenn sie durch einen Gesetzgebungsakt der Union für verbindlich erklärt wurden, gemäß dem Grundsatz der Rechtssicherheit den Einzelnen grundsätzlich nur dann entgegengehalten werden können, wenn sie selbst im Amtsblatt veröffentlicht wurden. Da die Normen, auf die Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 verweist, nicht im Amtsblatt veröffentlicht wurden, sind die Einzelnen somit nicht in der Lage, von den Verfahren zur Messung der durch diese Richtlinie für Zigaretten festlegten Emissionswerte Kenntnis zu nehmen. Bezüglich der Frage, ob die ISO-Normen Unternehmen entgegengehalten werden können, hat der Gerichtshof hingegen betont, dass dies dann der Fall ist, wenn diese über die nationalen Normungsorganisationen Zugang zur offiziellen und authentischen Fassung der Normen haben, auf die Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 verweist.

Drittens hat der Gerichtshof, was die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 des FCTC10 betrifft, festgestellt, dass die letztgenannte Bestimmung nicht jegliche Beteiligung der Tabakindustrie an der Festlegung und Anwendung der Vorschriften zur Eindämmung des Tabakgebrauchs verbietet, sondern lediglich verhindern soll, dass die Maßnahmen der Vertragsparteien gegen den Gebrauch von Tabak durch Interessen dieser Industrie beeinflusst werden. Daher kann die bloße Beteiligung der Tabakindustrie an der Festlegung der in Rede stehenden Normen bei der ISO die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 nicht in Frage stellen.

Viertens hat der Gerichtshof, was die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf das Erfordernis eines hohen Schutzniveaus für die menschliche Gesundheit11 sowie auf die Art. 24 und 35 der Charta12 betrifft, darauf hingewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Gültigkeit dieser Bestimmung der Richtlinie 2014/40 nicht auf der Grundlage von Studien beurteilt werden kann, die das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen anführte. Diese Studien wurden nämlich nach dem 3. April 2014, dem Zeitpunkt des Erlasses dieser Richtlinie, erstellt.

Fünftens und letztens hat der Gerichtshof die Merkmale präzisiert, die das Verfahren zur Messung der Emissionen von Zigaretten aufweisen muss, das anzuwenden ist, um die Einhaltung der durch die Richtlinie 2014/40 festgelegten Emissionshöchstwerte in dem Fall zu überprüfen, dass der Verweis in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie auf ISO-Normen den Einzelnen nicht entgegengehalten werden kann. Er hat folglich entschieden, dass dieses Verfahren im Hinblick auf wissenschaftliche und technische Entwicklungen oder international vereinbarte Normen geeignet sein muss, die Werte der Emissionen zu messen, die freigesetzt werden, wenn eine Zigarette bestimmungsgemäß verwendet wird, und dass dabei ein hoher Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, zugrunde gelegt werden muss. Die Genauigkeit der mit diesem Verfahren erzielten Messungen muss von den in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/40 angeführten Laboren, die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zugelassen und überwacht werden, überprüft werden. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob die Verfahren, die tatsächlich zur Messung der Emissionswerte angewandt wurden, mit der Richtlinie 2014/40 in Einklang stehen, ohne deren Art. 4 Abs. 1 zu berücksichtigen.

1 Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014 L 127, S. 1). Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht die Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid für Zigaretten vor, die in den Mitgliedstaaten in Verkehr gebracht oder hergestellt werden (im Folgenden: durch die Richtlinie 2014/40 festgelegte Emissionshöchstwerte).

2 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 lautet: „Die Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionen von Zigaretten werden nach der ISO-Norm 4387 für Teer, ISO-Norm 10315 für Nikotin bzw. ISO-Norm 8454 für Kohlenmonoxid gemessen. Die Genauigkeit der Messungen zu Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid wird nach der ISO-Norm 8243 bestimmt“.

3 Dieser Grundsatz ist vorgesehen in Art. 1 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 3 EUV, in Art. 15 Abs. 1 und Art. 298 Abs. 1 AEUV sowie in Art. 42 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

4 Art. 114 Abs. 3 und Art. 297 Abs. 1 AEUV, Verordnung (EU) Nr. 216/2013 des Rates vom 7. März 2013 über die elektronische Veröffentlichung des Amtsblatts der Europäischen Union (ABl. 2013, L 69, S. 1) sowie Art. 24 und 35 der Charta.

5 Am 21. Mai 2003 in Genf geschlossenes Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung

des Tabakgebrauchs (Framework Convention on Tobacco Control, im Folgenden FCTC), zu dessen Vertragsparteien

die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten gehören.

6 U. a. Art. 5 Abs. 3 des FCTC.

7 Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001 L 145, S. 43).

8 Die Verordnung Nr. 216/2013 enthält u. a. die Vorschriften über die Veröffentlichung von Unionsrechtsakten im Amtsblatt der Europäischen Union.

9 Diese Bestimmung sieht vor: „Die Gesetzgebungsakte werden im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Sie treten zu dem durch sie festgelegten Zeitpunkt oder anderenfalls am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft“.