Verfassungsrechtlicher Räumungsschutz im Lichte des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit

Mit seinem Beschluss vom 18. Mai 2025 (2 BvQ 32/25) hat das Bundesverfassungsgericht erneut wichtige Maßstäbe zum grundrechtlich gebotenen Schutz vor Zwangsräumungen gesetzt, insbesondere im Kontext vulnerabler Personen. Im Zentrum steht die Abwägung zwischen dem Eigentumsrecht des Gläubigers (Art. 14 GG) und dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Schuldner. Der Fall betraf eine hochschwangere Frau mit geplantem Kaiserschnitt, deren Familie unmittelbar vor einer Zwangsräumung aus ihrer Wohnung stand.

Der Beschluss ist nicht nur verfahrensrechtlich, sondern auch materiellrechtlich von erheblicher Bedeutung: Er bekräftigt die verfassungsrechtliche Pflicht der Vollstreckungsgerichte, sich bei drohenden Gesundheitsgefahren ein vertieftes Bild der Situation des Schuldners zu machen – notfalls durch sachverständige Klärung.


Sachverhalt und Ausgangsverfahren

Die Antragsteller – eine Familie – wandten sich im Wege einer einstweiligen Anordnung an das Bundesverfassungsgericht, um eine am 19. Mai 2025 um 8:30 Uhr angesetzte Zwangsräumung zu verhindern. Hintergrund war ein Räumungsvergleich vor dem Amtsgericht Schwabach (1 C 379/23) vom Januar 2024, aus dem die Zwangsvollstreckung betrieben wurde.

Besonders brisant: Die Antragstellerin zu 2. war hochschwanger mit geplanter Sectio (Kaiserschnitt) am 23. Mai 2025, also nur vier Tage nach dem Räumungstermin. Die vorgesehene Unterbringung in einer Notunterkunft – konkret Containern – erschien der Familie aus medizinischen und hygienischen Gründen als unzumutbar.

Das Amtsgericht hatte zuvor sowohl den Antrag auf Räumungsschutz (§ 765a ZPO) als auch die sofortige Beschwerde abgelehnt. Dabei wurde die Schwangerschaft in Zweifel gezogen bzw. als nicht entscheidungserheblich angesehen. Eine vertiefte Sachverhaltsaufklärung fand nicht statt.


Rechtlicher Maßstab des BVerfG: § 32 BVerfGG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG

Das Bundesverfassungsgericht hat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 Abs. 1 BVerfGG zu prüfen, ob eine einstweilige Anordnung dringend geboten ist, um schwere Nachteile zu verhindern. Dabei kommt es maßgeblich auf eine Folgenabwägung an – insbesondere dann, wenn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist.

Im Zentrum der verfassungsrechtlichen Prüfung steht das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Das Gericht stellte erneut klar, dass dieses Grundrecht die Fachgerichte verpflichtet, bei drohenden Gesundheitsgefahren durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen umfassend aufzuklären. Dies gelte insbesondere, wenn – wie hier – konkrete Risiken für Leib und Leben einer schwangeren Frau und ihres ungeborenen Kindes im Raum stehen.


Kritik an den Fachgerichten: Fehlende Aufklärung und Interessenabwägung

Das Bundesverfassungsgericht übt deutliche Kritik am Vorgehen des Amtsgerichts Schwabach:

  • Fehlende Sachaufklärung: Die von der Antragstellerin vorgelegte ärztliche Bescheinigung über die bevorstehende Sectio wurde nicht ernsthaft in Zweifel gezogen, sondern ohne vertiefte Prüfung relativiert. Das Gericht sprach sogar davon, die Schwangerschaft erscheine „fahrlässig“ angesichts der finanziellen Lage – ein unverhältnismäßiger und stigmatisierender Ansatz, der dem Gebot staatlicher Neutralität widerspricht.
  • Unzureichende Abwägung: Die Entscheidung lässt eine verfassungsrechtlich gebotene Interessenabwägung zwischen dem Räumungsinteresse des Gläubigers und der körperlichen Unversehrtheit der Antragstellerin vermissen. Auch die Versorgungslage in der Notunterkunft – medizinisch und hygienisch problematisch – wurde nicht berücksichtigt.
  • Delegation an die Ordnungsbehörde: Die pauschale Verweisung auf die Zuständigkeit der Ordnungsbehörden zur Unterbringung und Versorgung der Familie wurde vom BVerfG klar zurückgewiesen. Gerichte dürfen sich ihrer verfassungsrechtlichen Verantwortung nicht entziehen, indem sie auf andere Institutionen verweisen, ohne deren tatsächliche Maßnahmen zu prüfen und sicherzustellen.

Folgenabwägung: Zwingendes Überwiegen der Schutzinteressen

Das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Nachteile für die Antragsteller – insbesondere im Hinblick auf nicht wiedergutzumachende gesundheitliche Schädendeutlich schwerer wiegen als die lediglich aufschiebenden Folgen für den Gläubiger bei einer Aussetzung der Zwangsräumung.

Die Zwangsvollstreckung wurde daher einstweilen bis zur Entscheidung über die (noch einzulegende) Verfassungsbeschwerde, längstens für sechs Monate, ausgesetzt.


Praktische Auswirkungen für die anwaltliche Praxis

Dieser Beschluss ist für die Praxis aus mehreren Gründen hochrelevant:

  • Stärkung der Schuldnerrechte im Vollstreckungsschutzverfahren (§ 765a ZPO): Der Beschluss konkretisiert die Anforderungen an die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung und die gebotene verfassungsrechtliche Interessenabwägung – insbesondere bei vulnerablen Schuldnern.
  • Pflicht zur Prüfung der Unterkunftssituation: Gerichte müssen sich – auch im Eilrechtsschutz – davon überzeugen, dass eine menschenwürdige Unterbringung tatsächlich verfügbar ist. Die bloße Verweisung auf theoretisch mögliche Hilfe genügt nicht.
  • Schutz schwangerer Schuldnerinnen: Schwangerschaft und drohende gesundheitliche Gefahren im Zusammenhang mit Entbindung und Versorgung des Neugeborenen sind besonders zu berücksichtigen und dürfen nicht relativiert werden.
  • Verfassungsbeschwerde als Mittel letzter Instanz: Wenn der fachgerichtliche Rechtsschutz versagt, kann die Verfassungsbeschwerde, flankiert von einem Antrag auf einstweilige Anordnung, ein wirksames Mittel zum Schutz existenzieller Grundrechte darstellen.

Der Beschluss 2 BvQ 32/25 stärkt den grundrechtlichen Schutz von Schuldnern gegenüber Zwangsvollstreckungsmaßnahmen – insbesondere, wenn existenzielle Gesundheitsgefahren drohen. Das Bundesverfassungsgericht erinnert die Fachgerichte an ihre verfassungsrechtliche Verantwortung: Zwangsvollstreckung darf nicht um jeden Preis erfolgen. Vielmehr bedarf es einer sorgfältigen Abwägung, insbesondere wenn gesundheitliche Unversehrtheit, Menschenwürde und das Leben ungeborener Kinder auf dem Spiel stehen.

Für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte im Mietrecht, Vollstreckungsrecht und Verfassungsrecht ist dieser Beschluss ein wichtiger Maßstab für den Umgang mit Härtefällen – und ein deutliches Signal: Grundrechte enden nicht an der Türschwelle eines Räumungsbeschlusses.