Hintergrund des Falls: Extremismus-Verdacht im Referendariat
Ein juristischer Hochschulabsolvent, der früher in rechtsextremen Organisationen aktiv war, beantragte in Sachsen die Aufnahme in den juristischen Vorbereitungsdienst (Rechtsreferendariat). Der Bewerber hatte unter anderem Funktionen in der Jugendorganisation einer Partei (Junge Alternative) und im Verein „Ein Prozent e.V.“ inne. Obwohl er nach eigenen Angaben seit 2023 aus allen politischen Aktivitäten ausgestiegen war und eine Verfassungstreue-Erklärung unterzeichnet hatte, lehnte das Oberlandesgericht Dresden (als Ausbildungsbehörde) seinen ersten Bewerbungsantrag im April 2025 ab. Zur Begründung berief sich das Land auf Zweifel an der Verfassungstreue: Angesichts der langjährigen rechtsextremen Aktivitäten des Bewerbers sei nicht gewährleistet, dass er das erforderliche Mindestmaß an Verfassungstreue aufbringe. Insbesondere sei die Zeit seit seinem Ausscheiden aus dem Vereinsvorstand zu kurz, um von einer hinreichenden Wohlverhaltensphase sprechen zu können. Das Verwaltungsgericht Dresden bestätigte diese Einschätzung zunächst und lehnte den Eilantrag des Bewerbers auf Zulassung zum 1. November 2025 ab.
Der Bewerber gab jedoch nicht auf und legte Beschwerde beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht (OVG) in Bautzen ein. Mit Beschluss vom 6. November 2025 – 2 B 267/25 gab das OVG Bautzen dem Eilantrag statt und verpflichtete den Freistaat Sachsen, den Bewerber vorläufig in den Referendardienst aufzunehmen. Damit wurde der zuvor abgelehnte Kandidat – trotz seiner Vergangenheit in der rechten Szene – per einstweiliger Anordnung zum Rechtsreferendar ernannt. Diese Entscheidung stützt sich auf verfassungsrechtliche Erwägungen und eine einschlägige Vorgabe des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs.
Verfassungsrechtliche Bewertung: Berufsfreiheit vs. Verfassungstreuepflicht
Das OVG Bautzen betonte, dass die Nichtzulassung zum Referendariat einen besonders schweren Eingriff in die Grundrechte des Bewerbers darstellt. In Sachsen – wie in ganz Deutschland – ist der juristische Vorbereitungsdienst zwingende Voraussetzung für alle klassischen juristischen Berufe, nicht nur für den Staatsdienst als Richter oder Staatsanwalt. Ohne Referendariat gibt es kein Zweites Staatsexamen und damit keinen Zugang zum Anwaltsberuf oder Notariat. Eine Versagung der Ausbildungschance schneidet den Bewerber also von sämtlichen Berufswegen ab, die die Befähigung zum Richteramt erfordern. Vor diesem Hintergrund dürfen Bewerber nur aus äußerst gravierenden Gründen vom Vorbereitungsdienst ausgeschlossen werden.
Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen der freiheitlichen Berufswahl einerseits und den berechtigten Anforderungen an die Verfassungstreue im öffentlichen Dienst andererseits. Zwar wird im Beamten- und Richterrecht (Art. 33 Abs. 5 GG, § 9 Nr. 2 DRiG) verlangt, dass Staatsdiener jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten. Jedoch befindet sich ein Rechtsreferendar noch in Ausbildung und übt staatliche Funktionen nur unter Aufsicht und vorübergehend aus. Das OVG stellte klar, dass an die Verfassungstreue von Referendaren weniger strenge Anforderungen zu stellen sind als an jene von Richtern oder Beamten auf Lebenszeit. Der Vorbereitungsdienst ist ein Ausbildungsabschnitt und kein Eintritt in ein dauerhaftes Amtsverhältnis mit voller hoheitlicher Entscheidungsbefugnis.
Maßstab der Verfassungsgerichtshof-Entscheidung 2022
Entscheidend für den vorliegenden Fall war eine Grundsatzentscheidung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs (VerfGH) vom 21. Oktober 2022 (Az. Vf. 95-IV-21). Darin hatte der VerfGH die Berufsfreiheit der Referendariatsbewerber besonders hervorgehoben und den Versagungsgrund der fehlenden Eignung (§ 8 Abs. 4 Nr. 1 lit. b SächsJAG) eng ausgelegt. Nach dieser Rechtsprechung darf die Aufnahme in den juristischen Vorbereitungsdienst nur dann verweigert werden, wenn der Bewerber die freiheitlich-demokratische Grundordnung in strafbarer Weise bekämpft. Mit anderen Worten: Nur strafrechtlich relevante Verfassungsfeindlichkeit kann zur Ablehnung führen. Bloße politische Aktivitäten oder extremistische Gesinnungen unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit genügen nicht, um einen Bewerber als „ungeeignet“ auszusortieren. Diese verfassungskonforme Auslegung orientiert sich an § 7 Nr. 6 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), die eine Zulassung als Rechtsanwalt nur versagt, wenn jemand aktiv die Grundordnung in strafbarer Weise bekämpft. Es wäre unverhältnismäßig, so der VerfGH, den früheren Ausbildungsabschnitt strenger zu reglementieren als den Zugang zum Anwaltsberuf.
Das OVG Bautzen hat diese Vorgaben konsequent angewendet. Da dem Bewerber kein strafbares Verhalten zur Last gelegt wurde – er war weder an Gewaltakten beteiligt noch wegen verfassungsfeindlicher Straftaten verurteilt – durfte ihm die Referendarstelle nicht verwehrt werden. Politische Betätigung in einer extremistischen Organisation, so problematisch sie aus staatlicher Sicht sein mag, reicht allein nicht aus, um die Eignung für den Vorbereitungsdienst abzulehnen. Auch die Tatsache, dass der Bewerber seine Funktionen bei „Ein Prozent e.V.“ und der Jungen Alternative ausgeübt hatte, als diese Organisationen noch nicht formal als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft waren, unterstreicht, dass kein strafbares Handeln vorlag – seine Tätigkeiten waren (zumindest zum damaligen Zeitpunkt) legal. Folglich kam eine Ablehnung “mangels Verfassungstreue” rechtlich nicht in Betracht.
Bindungswirkung und abweichende Ansichten
Bemerkenswert an der OVG-Entscheidung ist, dass der 2. Senat ausdrücklich auf die Bindungswirkung der VerfGH-Rechtsprechung hinweist. Das OVG ließ durchblicken, dass es selbst gewisse Zweifel an der vom VerfGH vorgenommenen Auslegung hat – und verwies darauf, dass das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in einem Urteil vom 10. Oktober 2024 (Az. 2 C 15.23) diese Zweifel teile. Tatsächlich vertritt das BVerwG (für andere Bundesländer) die Auffassung, dass schon begründete Zweifel an der Verfassungstreue eines Referendars die Ablehnung rechtfertigen können, um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu sichern. Hier prallen also Landesverfassungsrecht und Bundesrecht aufeinander: Der Freistaat Sachsen berief sich im Verfahren darauf, dass die Grundwerte des Grundgesetzes (Art. 33 Abs. 5 GG) strengere Anforderungen an Referendare erlauben müssten als vom VerfGH angenommen.
Dennoch machte das OVG Bautzen unmissverständlich klar, dass es rechtlich gebunden ist, der Entscheidung des Sächsischen VerfGH zu folgen. Nach § 14 Abs. 2 SächsVerfGHG entfalten die maßgeblichen Gründe eines Verfassungsgerichtshofs-Beschlusses Bindungswirkung für die Fachgerichte. Das bedeutet: Solange der Sächsische VerfGH nicht anders entscheidet oder kein übergeordnetes Gericht (wie das Bundesverfassungsgericht) einschreitet, gilt in Sachsen die Devise, dass nur strafbare Verfassungsfeindlichkeit zum Ausschluss vom Referendariat führen darf. Alle anderen Zweifel an der Eignung – mögen sie in den Augen der Behörden noch so gewichtig sein – dürfen die Zulassung nicht verhindern. Die zuvor vom Verwaltungsgericht und vom OLG Dresden angeführten Bedenken (fehlende Wohlverhaltensphase, langjähriges Engagement in der rechten Szene etc.) sind daher rechtlich hinfällig, solange eben keine strafrechtlich relevante Aktivität des Bewerbers nachweisbar ist.
Praktische Folgen für Referendariatsbewerber in Sachsen
Für angehende Juristinnen und Juristen – insbesondere in Sachsen – ergeben sich aus dieser Entscheidung mehrere wichtige praktische Konsequenzen:
- Extremistische Vergangenheit ist kein automatisches Aus: Wer früher Mitglied in einer vom Verfassungsschutz beobachteten Partei oder Gruppe war, kann dennoch zum Referendariat zugelassen werden. Allein die Mitgliedschaft oder politische Betätigung in extremistischen Organisationen (ohne Straftaten) genügt nicht als Ablehnungsgrund. Der Staat darf die Ausbildung nicht mit Verweis auf Gesinnungsmängel verweigern, solange kein strafbares Handeln gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorliegt.
- Bedeutung der Verfassungstreue-Erklärung: In Sachsen müssen Bewerber eine Erklärung unterschreiben, in der sie ihre Bereitschaft bestätigen, jederzeit für die Verfassung einzutreten. Diese Loyalitätserklärung bleibt weiterhin Pflicht. Bewerber sollten darin wahrheitsgemäß frühere politische Aktivitäten angeben (so wie der Antragsteller es tat) und ihre Distanzierung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen deutlich machen. Rein formal verhindert aber auch eine problematische politische Vita nicht die Einstellung – die Erklärung zur Verfassungstreue dient vor allem der Selbstverpflichtung und der Information der Behörde, ersetzt aber keine Strafrechtsgrenze. Entscheidend ist, dass Bewerber keine falschen Angaben machen und sich der Bedeutung der Erklärung bewusst sind.
- Öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis als Alternative: Sachsen hat – wie einige andere Länder – ein öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis geschaffen (§ 8 Abs. 2 SächsJAG i.V.m. § 34 Abs. 4 SächsJAPO), um Bewerber aufzunehmen, die nicht in ein Beamtenverhältnis übernommen werden können (etwa wegen Zweifeln an der Eignung). Der hier betroffene Bewerber wurde vom OVG ausdrücklich im Rahmen eines solchen öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnisses eingestellt, nicht als Beamter auf Widerruf. Praktisch bedeutet dies: Auch wenn jemand für den Beamtenstatus nicht in Betracht kommt, muss das Land die Ausbildung ermöglichen (zur Not eben auf vertraglicher Basis). Bewerber mit problematischer Vorgeschichte sollten gegebenenfalls explizit die Aufnahme im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis beantragen, um ihren Anspruch auf Ausbildung zu wahren. Dies stellt sicher, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Berufszugang (BVerfGE 39, 334 – „Radikalenerlass“) eingehalten werden.
- Kein Persilschein für zukünftiges Verhalten: Die Entscheidung garantiert den Zugang zur Ausbildung, nicht jedoch automatisch später eine Übernahme in den Staatsdienst. Wer die Ausbildung absolviert, kann zwar Volljurist und Rechtsanwalt werden – für eine Berufung ins Richteramt oder höhere Beamtenlaufbahn gelten aber strengere Maßstäbe (Art. 33 Abs. 5 GG). Für Bewerber bedeutet das: Trotz erfolgreichem Referendariat könnte eine Karriere als Staatsanwalt oder Richter weiterhin versagt bleiben, wenn Zweifel an der Verfassungstreue bestehen. Allerdings hat man zumindest die Chance, das zweite Examen abzulegen und in freie Berufe (Anwaltschaft, Wirtschaft) zu gehen.
- Situation in anderen Bundesländern: Die hier besprochene Entscheidung beruht auf sächsischem Verfassungsrecht. In anderen Bundesländern ohne entsprechende Verfassungsgerichtsentscheidungen kann die Lage abweichen. Einige Länder behandeln Referendare ausschließlich als Beamte auf Widerruf und legen die Verfassungstreuekriterien strenger aus. Dort könnten Bewerber mit vergleichbarem Hintergrund weiterhin auf Ablehnung stoßen – ggf. bliebe dann der Gang durch die Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Die bundesrechtliche Diskussion ist im Fluss: Das Bundesverwaltungsgericht hat eine restriktivere Haltung signalisiert, während Stimmen in der Literatur den Kurs des SächsVerfGH unterstützen. Bewerber sollten sich daher im jeweiligen Bundesland über die aktuelle Rechtslage informieren und bei negativer Entscheidung rechtliche Beratung in Anspruch nehmen.
Stärkung der Ausbildungsfreiheit durch den Sächsischen VerfGH und OVG Bautzen
Der Beschluss des Sächsischen OVG vom 06.11.2025 unterstreicht die hohe verfassungsrechtliche Wertigkeit der Berufsfreiheit angehender Juristen. Das Gericht hat – gebunden an die Linie des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs – klargestellt, dass politische Gesinnungssünden oder extremistische Vergangenheiten nicht zu einem faktischen Berufsverbot auf Lebenszeit führen dürfen, solange keine strafbaren Handlungen gegen die Demokratie begangen wurden. Damit wird ein wichtiger Grundsatz bestätigt: Die juristische Ausbildung darf nicht als Filter zur Gesinnungskontrolle missbraucht werden, sondern steht (auch) Bewerbern offen, die ihre Überzeugungen geändert haben oder trotz früherer Irrwege zur freiheitlichen Grundordnung stehen.
Für die Praxis bedeutet dies, dass der öffentliche Dienst in Sachsen verfassungstreuekritische Fälle zunächst im Referendariat dulden muss – freilich immer in dem Bewusstsein, dass diese Referendare beobachtet werden können und bei tatsächlichen Verfehlungen entsprechend sanktioniert würden. Die Entscheidung trägt dem Umstand Rechnung, dass das Referendariat ein Ausbildungsabschnitt ist und kein Prädikat dafür, dass der Staat jemanden auf Dauer in seinen Dienst nimmt. Sie schützt die Offenheit des Zugangs zu juristischen Berufen und verhindert, dass politische Vergangenheit alleine zur Sackgasse wird.
Gleichzeitig bleibt abzuwarten, wie sich die Rechtslage bundesweit entwickelt. Sollte es zu vergleichbaren Konflikten in anderen Ländern kommen, könnte letztlich das Bundesverfassungsgericht gefragt sein, einen einheitlichen Maßstab zu setzen. Bis dahin jedoch ist der Rechtstipp für angehende Referendare klar: In Sachsen sind die Hürden für die Zulassung zum Vorbereitungsdienst verfassungsgemäß niedrig – entscheidend ist die strafrechtliche Unbescholtenheit, nicht die politische Gesinnung. Bewerber können sich auf ihre Berufsfreiheit berufen und darauf vertrauen, dass eine zweifelhafte Vergangenheit allein ihnen nicht den Weg zum Zweiten Examen versperrt.