Verletzung des Resozialisierungsinteresses eines langjährig Inhaftierten durch Versagung von Vollzugslockerungen

22. Oktober 2019 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit hat mit Beschlüssen vom 18.09.2019 zu den Aktenzeichen  2 BvR 1165/19, 2 BvR 681/19, 2 BvR 650/19 entschieden, dass das Gebot, die Lebenstüchtigkeit der Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann eingreift, wenn Gefangene Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation aufweisen, sondern Gefangene so lebenstüchtig bleiben sollen, dass sie sich im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben wieder zurechtfinden.

Aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 68/2019 vom 18.10.2019 ergibt sich:

Die Verfassungsbeschwerden betreffen in allen Verfahren die Gewährung von Vollzugslockerungen für Strafgefangene, die sich seit über sieben bzw. zwölf und vierzehn Jahren in Haft befinden. Die Beschwerdeführer hatten jeweils Ausführungen zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit beantragt, die durch die jeweiligen Justizvollzugsanstalten abgelehnt worden waren. Alle Beschwerdeführer beantragten erfolglos die Aufhebung der entsprechenden Entscheidungen der Justizvollzugsanstalten. Auch die Beschwerden zu den jeweiligen Oberlandesgerichten blieben erfolglos.

Das BVerfG hat den drei Verfassungsbeschwerden der langjährig inhaftierten Strafgefangenen stattgegeben und die Verfahren unter Aufhebung der angegriffenen Beschlüsse zur erneuten Entscheidung an die Landgerichte zurückverwiesen.

Nach Auffassung des BVerfG greift das Gebot, die Lebenstüchtigkeit Gefangener zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn sich bereits eine Einschränkung der Lebenstüchtigkeit unter den Verhältnissen der Haft bemerkbar macht. Das aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitende Grundrecht Gefangener auf Resozialisierung gebiete vielmehr gerade auch die Erhaltung der Tüchtigkeit für ein Leben in Freiheit. Gefangene sollen so lebenstüchtig bleiben, dass sie sich im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben wieder zurechtfinden.

Wesentliche Erwägungen des BVerfG:

  1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen. Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen. Dabei greift das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn er bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist. Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine Lebenstüchtigkeit im Falle der Entlassung aus der Haft zu behalten, hat ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert. Androhung und Vollstreckung der Freiheitsstrafe finden ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug. Dementsprechend hat der Gesetzgeber dem Vollzug der Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrunde gelegt. Der Wiedereingliederung des Gefangenen dienen unter anderem die Vorschriften über Vollzugslockerungen beziehungsweise vollzugsöffnende Maßnahmen. Durch diese Maßnahmen werden dem Gefangenen zudem Chancen eingeräumt, sich zu beweisen und zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen. Erstrebt ein Gefangener diese Maßnahmen, so wird er durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse berührt. Gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen für vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinne etwa wegen einer konkret bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht erfüllen, dienen Ausführungen dem Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und -tüchtigkeit. Bei langjährig Inhaftierten kann es daher, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt. Der damit verbundene personelle Aufwand ist dann hinzunehmen. Aufgrund dieser Bedeutung darf sich eine Justizvollzugsanstalt, wenn sie vollzugslockernde Maßnahmen und insbesondere Ausführungen versagt, nicht auf bloße pauschale Wertungen oder auf den Hinweis einer abstrakten Flucht- oder Missbrauchsgefahr beschränken. Sie hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren. Ob dies geschehen ist, hat die Strafvollstreckungskammer zu überprüfen.

Versagt die Justizvollzugsanstalt eine Vollzugslockerung unter Annahme einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr, prüfen die Fachgerichte im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG, ob die Vollzugsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe richtig ausgelegt und angewandt hat. Zwar verlangt der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr eine Prognoseentscheidung und eröffnet der Vollzugsbehörde einen – verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden – Beurteilungsspielraum, in dessen Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind. Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte indes nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht. Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat. Legt die Strafvollstreckungskammer ihrer Entscheidung diesen Maßstab zugrunde, prüft das BVerfG lediglich, ob das Gericht der Vollzugsbehörde einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs verkannt hat und ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des dargelegten fachgerichtlichen Maßstabs schlechthin nicht mehr nachvollziehbar ist und damit den aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt.

  1. Nach diesem Maßstab können die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben. In allen Verfahren sind die Gerichte davon ausgegangen, dass die Voraussetzung von Ausführungen die (konkrete) Gefahr sei, dass Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit drohten. Sie haben damit den Sinn des grundrechtlichen Gebots, einem Verlust der Lebenstüchtigkeit der Gefangenen nach Möglichkeit entgegenzuwirken bzw. deren Lebenstüchtigkeit zu festigen, verfehlt. Dieses Gebot bezieht sich als Element der staatlichen Verpflichtung, den Haftvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, offensichtlich nicht nur auf den drohenden Verlust von für das Leben in Haft bedeutsamen Fähigkeiten, sondern gerade auch auf die Erhaltung der Tüchtigkeit für ein Leben in Freiheit. Gefangene sollen so lebenstüchtig bleiben, dass sie sich im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben wieder zurechtfinden. Mit der Annahme, das Gebot, die Lebenstüchtigkeit der Gefangenen zu erhalten und zu festigen, greife erst ein, wenn Gefangene Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation aufweisen, die sich bereits als Einschränkung ihrer Lebenstüchtigkeit unter den Verhältnissen der Haft bemerkbar macht, wird es daher grundlegend missverstanden. Dem hohen Gewicht, das dem Resozialisierungsinteresse der Beschwerdeführer nach langjährigem Freiheitsentzug für die Ermessensentscheidung der Justizvollzugsanstalten zukam, haben die Gerichte auf diese Weise in allen Verfahren nicht hinreichend Rechnung getragen.