Vermittlung von Videosprechstunden: Urteil SG München 29.04.2025 (S 56 KA 325/22)

19. Juli 2025 -

Zu lange Wartezeiten kennen gesetzlich Krankenversicherte vielerorts. Vermittlungsplattformen für Videosprechstunden werben daher damit, genau diese Lücke zu schließen. In einer als „grundlegend“ bezeichneten Entscheidung hat das Sozialgericht München nun das Angebot eines solchen Vermittlers (Teleclinic) genau geprüft. Ergebnis: Viele Elemente des Geschäftsmodells verstoßen gegen Berufs‑ und Vertragsarztrecht. Das Gericht untersagte den Betrieb zentraler Funktionen und verpflichtete das Unternehmen zur Unterlassung bestimmter Werbebotschaften.

Kernpunkte des Urteils

  • Werbung und Irreführung: Das Gericht untersagte ausdrücklich den Werbeslogan “Tschüss Wartezimmer. Hallo Online-Arzt.”. Damit würde fälschlich suggeriert, jede Erkrankung ließe sich ausschließlich per Video behandeln. Nach § 9 HWG ist Werbung für Fernbehandlungen grundsätzlich verboten, wenn sie den Eindruck erweckt, dass eine persönliche Erstvorstellung nicht notwendig sei. Genau das sah das Gericht hier gegeben und bewertete die Slogans als irreführend.
  • Patientenzugang und Arztwahl: Vertragsärztliche Leistungen dürfen GKV-Versicherten nicht hinter einer zwingenden Registrierung versteckt werden. Nach Bundesmantelvertrag-Ärzte (§ 5 BMV-Ä) muss Videoteilnahme „ohne vorherige Registrierung“ möglich sein. Ebenfalls unzulässig war, dass Patienten bei der Plattform nur einen Zeitraum, aber keinen konkreten Arzt wählen konnten. Die freie Arztwahl (§ 76 SGB V) verlangt, dass der Versicherte den Behandler selbst auswählen kann. Hier entschied das Gericht zugunsten der Versicherten.
  • Datenschutz und Patientenakte: Die Plattform führte einen elektronischen „Dokumentenordner“ für Patientenunterlagen – de facto eine digitale Patientenakte – was das Gericht als unzulässig einstufte. Ein zertifizierter Videodienstanbieter darf sich nach § 395 SGB V i.V.m. Anlage 31b BMV-Ä nur auf die technische Durchführung der Videosprechstunde beschränken. Alle darüber hinausgehenden Aufgaben des Arztes (z.B. Datenverwaltung) dürfen nicht an die Plattform abgegeben werden. Dementsprechend darf die Plattform keine Patientenakte führen und auch keine Symptome oder Beschwerden der Versicherten automatisch an den Arzt übermitteln, es sei denn, die Patientin/der Patient stimmt dem ausdrücklich und erst während der Konsultation zu.
  • Vergütung und Kooperationen: Monetiäre Elemente wurden ebenfalls beanstandet. Den Ärzten durfte keine Gebühr in Aussicht gestellt oder abverlangt werden, die erst dann fällig ist, wenn eine Videosprechstunde zustande kommt – dies würde als verbotene Patientenzuweisung gelten. Zudem verbot das Gericht die explizite Nennung einer bestimmten Versandapotheke auf der Plattform. Ärzte dürfen keine Empfehlung für eine Einzelapotheke aussprechen, und über die Plattform hergestellte Verbindungen zwischen Arzt, Patient und einer bestimmten Apo sind als Verstoß gegen die Marktverhaltensnormen (§ 3a UWG) bewertet worden.

Bedeutung und Praxistipps

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig – Teleclinic hat Berufung angekündigt – gibt aber schon jetzt wichtige Leitplanken vor. Telemedizin-Plattformen müssen bei Werbung und Leistungsangebot exakt die berufs‑ und vertragsärztlichen Regeln einhalten. Für Anbieter und kooperierende Ärzte bedeutet das insbesondere:

  • Keine irreführende Werbung: Verzicht auf Slogans, die suggerieren, jede Behandlung ginge ohne persönlichen Arztkontakt. Fernbehandlung darf nur versprochen werden, wenn sie den engen Bedingungen des § 9 HWG (Fachstandard ohne Arztkontakt) entspricht.
  • Freier Zugang für Patienten: Gesetzlich Versicherten muss ein unmittelbarer, registrierungsfreier Zugang angeboten werden. Es darf ihnen nicht aufgedrängt werden, sich erst auf einer Plattform anzumelden, noch dürfen sie in der Auswahl ihres Arztes eingeschränkt werden.
  • Datenverarbeitung beschränken: Die Plattform darf keine eigene Patientenakte führen. Die Erfassung von Gesundheitsdaten (z.B. Symptome) ist nur zulässig, wenn der Patient der Verarbeitung zu Beginn der Videositzung ausdrücklich zustimmt. Alle anderen Betreuungs- und Steuerungsfunktionen verbleiben beim Arzt.
  • Finanzierung rechtskonform gestalten: Ärzte dürfen keine Erfolgsbeteiligung vereinbaren oder eine Extragebühr für über die Plattform vermittelte Patienten zahlen. Alle Empfehlungs- und Vergütungsmodelle müssen den berufsrechtlichen Vorgaben genügen. Auch Kooperationen mit Apotheken sollten neutral erfolgen (keine exklusiven Hinweise, keine Anpreisung Einzelner).

Insgesamt setzt das Urteil der Telemedizin klare Grenzen: Technische Vermittlungsdienste dürfen den sektoralen Rechtsrahmen nicht unterlaufen. Ärzte und Plattformanbieter sollten ihr Angebot daraufhin überprüfen und bei Bedarf anpassen, um Abmahnungen oder Klagen zu vermeiden. Die ausführlichen Urteilsgründe liefern wertvolle Hinweise, welche Werbemaßnahmen und Geschäftsmodelle in der vertragsärztlichen Versorgung zulässig sind.