Versagung von Vollstreckungsschutz gemäß § 765a ZPO in einem Räumungsverfahren ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 29. Juni 2022 zum Aktenzeichen 2 BvR 447/22 entschieden, dass die Versagung von Vollstreckungsschutz gemäß § 765a ZPO in einem Räumungsverfahren verfassungswidrig ist.

Der 78-jährige, alleinstehende Beschwerdeführer bewohnt seit 13 Jahren eine Mietwohnung. Er wurde mit Endurteil des Amtsgerichts vom 12. Februar 2020 aufgrund außerordentlicher fristloser Kündigung des Mietverhältnisses wegen erheblicher Gefährdung der Rechte der Vermieterin (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB) und nachhaltiger Störung des Hausfriedens (§ 569 Abs. 2 BGB) zur Räumung und Herausgabe der Mietwohnung sowie zur Zahlung außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten verurteilt. Die dagegen eingelegte Berufung wies das Landgericht mit Endurteil vom 13. April 2021 zurück. Die außerordentliche Kündigung sei jedenfalls wegen Verzugs des Beschwerdeführers mit mehr als einer Monatsmiete in zwei aufeinanderfolgenden Monaten gerechtfertigt. Das Berufungsgericht räumte dem Beschwerdeführer eine Räumungsfrist bis zum 30. September 2021 ein.

Nach einem Arztbericht vom 14. Juni 2017 hatte der Beschwerdeführer am 10. Juni 2017 ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Ausweislich mehrerer ärztlicher Atteste, die zwischen April 2020 und Mai 2021 ausgestellt wurden, leidet er an chronischen thorakalen Schmerzen mit Belastungsdyspnoe und extremer psychischer Belastung. Er könne sich schlecht konzentrieren, Termine könnten oft nicht eingehalten werden. Administrative Aufgaben würden fremdbearbeitet. Wegen der vorgenannten Erkrankung sei der Beschwerdeführer mindestens bis Ende 2021 nicht reise- und gerichtsfähig. In einem weiteren ärztlichen Attest vom 11. Januar 2021 ist beschrieben, dass der Beschwerdeführer unter multiplen chronischen Erkrankungen leide und dass bei ihm eine akute psychische Belastungssituation bestehe.

Der Beschwerdeführer hatte Herrn (…) eine umfassende Vorsorgevollmacht erteilt. Zwischen ihm und Herrn (…), der die Errichtung einer umfassenden Betreuung des Beschwerdeführers anregte, kam es zu Differenzen.

Nach einem – im Rahmen des Betreuungsverfahrens erstellten – psychiatrischen Gutachten vom 22. Juli 2021 leidet der Beschwerdeführer an einem komplexen diffusen Krankheitsbild mit kognitiven Beeinträchtigungen. Er sei nicht mehr in der Lage, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen und einen freien Willen zu bilden. Er leide an einem beginnenden dementiellen Syndrom mit deutlich wahnhafter Komponente und an einer Persönlichkeitsstörung. Hierbei handele es sich um psychische Erkrankungen und um chronische progrediente Leiden. Der Beschwerdeführer könne krankheitsbedingt seinen Willen nicht mehr frei bestimmen beziehungsweise nicht entsprechend seiner Einsicht handeln. Das Krankheitsbild zeige einen Ausprägungsgrad, bei dem nach gutachterlicher Auffassung die Voraussetzungen zur Errichtung einer umfassenden Betreuung, auch gegen den expliziten Willen des Beschwerdeführers vorlägen. Es sei eine umfassende Unterstützung im Rahmen einer Betreuung zur Strukturierung der anstehenden Probleme erforderlich. Die psychischen Erkrankungen würden, dem beginnenden Verlauf folgend, auf unbestimmte Zeit fortbestehen. Erfahrungsgemäß zeige ein derartiges Krankheitsbild wenig Tendenz zur Stabilisierung. Die Voraussetzungen für eine Betreuung bestünden voraussichtlich bis auf Weiteres und sollten in einem Zeitraum von sieben Jahren überprüft werden. Aufgrund der Erkrankungen könne der Beschwerdeführer nicht mehr Sorge für seine persönlichen Angelegenheiten tragen. Für Suizidalität des Beschwerdeführers sah der Sachverständige keinen Anhalt.

Mit nicht verfahrensgegenständlichem Beschluss vom 2. Dezember 2021 wurde durch das Betreuungsgericht für den Beschwerdeführer eine Betreuung mit begrenztem Aufgabenkreis (Geltendmachung von Rechten des Beschwerdeführers gegenüber dem Bevollmächtigten <…>) errichtet und insoweit einer seiner Bevollmächtigten des hiesigen Verfahrens zum Betreuer bestellt.

Zur Vollstreckung des Räumungsurteils wurde zunächst ein Räumungstermin auf den 21. Dezember 2021 festgelegt. Dieser Termin wurde später aufgehoben, was dem Beschwerdeführer nach seinem Vortrag allerdings nicht sofort mitgeteilt worden ist.

Mit Schriftsatz vom 29. November 2021 stellte der Beschwerdeführer einen Vollstreckungsschutzantrag. Er begehrte, die Zwangsvollstreckung hinsichtlich des Räumungsanspruchs zeitlich unbefristet zu untersagen und bis zu einer Entscheidung über den Vollstreckungsschutzantrag die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungstitel hinsichtlich des Räumungsanspruchs einstweilen einzustellen. Unter Hinweis auf den Arztbericht vom 14. Juni 2017 und eines der im Mai 2021 ausgestellten ärztlichen Atteste begründete der Beschwerdeführer den Vollstreckungsschutzantrag mit seinem Gesundheitszustand. Aufgrund des sich wesentlich verschlechternden gesundheitlichen Zustands, des Alters, der Mietdauer und der psychischen Erkrankung bestehe eine deutlich verringerte Anpassungsfähigkeit an eine veränderte Umgebung. Dies begründe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer seine Autonomie verliere und bald zum Pflegefall werden könne. Die Beschwernisse eines Umzugs oder gar einer Zwangsräumung würden die konkrete Gefahr mit sich bringen, dass der Beschwerdeführer jegliche Orientierung verliere. Schon der Gedanke an die Aufgabe seiner Wohnung versetze ihn in panische Angstzustände und in eine schwere depressive Verstimmung. Im Falle einer Zwangsräumung bestehe eine konkrete Suizidgefahr. Insoweit beantragte der Beschwerdeführer die Einholung eines Sachverständigengutachtens.

Eine Besserung des psychischen und physischen Zustands des Beschwerdeführers sei nicht in Sicht. Daher sei es ausnahmsweise gerechtfertigt, die Zwangsvollstreckung ohne zeitliche Befristung zu untersagen. Etwaige Belange der Vermieterin müssten hinter dem verfassungsrechtlich garantierten Recht des Beschwerdeführers auf Leben zurücktreten. Hierbei sei auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer schon angekündigt habe, er werde alle Rückstände ausgleichen und die laufende monatliche Nutzungsentschädigung pünktlich bezahlen. Auch sei der Beschwerdeführer aufgrund seiner Erkrankungen und seines chronisch progredienten Leidens selbst nicht zur Bewältigung seiner Angelegenheiten in der Lage. Er habe bereits Schwierigkeiten, einfache administrative Angelegenheiten zu klären und zu erledigen, weshalb er hierbei von einem seiner Prozessbevollmächtigten unterstützt werde.

Mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2021 legte der Beschwerdeführer das im Betreuungsverfahren eingeholte Sachverständigengutachten vom 22. Juli 2021 vor.

Die Vermieterin trat dem Vollstreckungsschutzantrag entgegen. Eine erhebliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Beschwerdeführers aufgrund der Räumung sei nicht zu befürchten.

Es würden noch erhebliche Zahlungsrückstände in genau bezifferter, vierstelliger Höhe bestehen.

In seiner Duplik vom 10. Dezember 2021 trug der Beschwerdeführer zur Begründung des Vollstreckungsschutzantrags erneut vor, seine psychischen Erkrankungen würden sich bei einer Zwangsvollstreckung wesentlich verschlechtern. Bei diesen Erkrankungen handele es sich – wie in dem vom Beschwerdeführer vorgelegten, im Rahmen des Betreuungsverfahrens erstellten Gutachten vom 22. Juli 2021 festgestellt – um chronische progrediente Leiden. Im Vollstreckungsfall bestehe eine ganz erhebliche Suizidgefahr. Abermals beantragte der Beschwerdeführer insoweit die Einholung eines Sachverständigengutachtens.

Es komme hinzu, dass der Beschwerdeführer auch aufgrund seiner psychischen und körperlichen Erkrankung derzeit nicht umzugsfähig sei. Hierzu werde noch eine fachärztliche Bescheinigung vorgelegt. Wie sich aus dem Arztbericht vom 14. Juni 2017 ergebe, sei beim Beschwerdeführer am 10. Juni 2017 ein Schädel-Hirn-Trauma sowie ein generalisiert konvulsiver Anfall bei vokaler Epilepsie diagnostiziert worden. Auch diese Erkrankung, unter der der Beschwerdeführer nach wie vor leide, könne sich bei einer Zwangsräumung wesentlich verschlechtern, sodass er nicht umzugsfähig sei. Insoweit beantragte der Beschwerdeführer ebenfalls die Einholung eines Sachverständigengutachtens.

Des Weiteren würden sich der Gesundheitszustand und auch der psychische Zustand des Beschwerdeführers gravierend verschlechtern, wenn er aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen werde und er dann sozusagen vor dem Nichts stehe. Einer der Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers bespreche mit ihm einmal wöchentlich die laufenden Angelegenheiten und kläre mit ihm ab, welche Verfahren anhängig, welche Kosten zu begleichen und welche Termine vom Beschwerdeführer wahrzunehmen seien.

Außerdem müsse der Beschwerdeführer – auch coronabedingt – sowohl im Dezember 2021 als auch im Januar 2022 mehrere Arzttermine wahrnehmen. Dem könnte er bei einer Zwangsräumung nicht entsprechen und es würde hierdurch eine wesentliche Verschlechterung seines Allgemein- und Gesundheitszustands eintreten.

Bei der vom Vollstreckungsgericht im Rahmen des Vollstreckungsschutzverfahrens vorzunehmenden Interessenabwägung seien natürlich die Interessen der Vermieterin zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer habe sich aber bisher erfolglos bemüht, die Mietrückstände in Erfahrung zu bringen, um sie tilgen zu können. Die entsprechenden Anfragen des Beschwerdeführers seien von der Gegenseite nicht beantwortet worden.

Nachdem das Amtsgericht den Beschwerdeführer unter Fristsetzung zur Vorlage eines aktuellen fachärztlichen Gutachtens zur Umzugsunfähigkeit aufgefordert hatte, trug der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2021 vor allem vor, dies sei ihm fristgerecht nicht möglich und er müsse am 15. Dezember 2021 beziehungsweise am 10. Januar 2022 augen- und zahnärztliche Termine wahrnehmen.

Das Amtsgericht wies den Vollstreckungsschutzantrag mit verfahrensgegenständlichem Beschluss vom 14. Dezember 2021 zurück. Der Beschwerdeführer hätte seit der ersten Wohnungskündigung längst Ersatzwohnraum finden können. Zur gesundheitlichen Situation seien keine aktuellen ärztlichen Befunde vorgelegt worden. Einer Zwangsräumung stehe weder eine augen- oder zahnärztliche Behandlung noch eine beginnende Demenz im Wege.

Daraufhin legt der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein, mit der er seinen Vortrag wiederholte. Nachdem das Amtsgericht der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen hatte, wies das Landgericht die sofortige Beschwerde mit verfahrensgegenständlichem Beschluss vom 20. Dezember 2021 zurück.

Vollstreckungsschutz könne weder nach dem Vortrag des Beschwerdeführers noch nach den von ihm vorgelegten Unterlagen gewährt werden. Aus den vorgelegten Attesten folge eine Reihe physischer Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers. Jedoch ergebe sich hieraus kein einziger Anhaltspunkt dafür, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage wäre, die Wohnung zu wechseln. Nicht er selbst müsse den Umzug durchführen. Hierfür stünden Umzugsunternehmen zur Verfügung. Aus den vorgelegten Attesten folgten keinerlei hinreichende Anhaltspunkte für eine wesentliche psychische Erkrankung.

Aus dem psychiatrischen Gutachten vom 22. Juli 2021 ergebe sich, dass der Beschwerdeführer an einem beginnenden dementiellen Syndrom mit deutlich wahnhafter Komponente und einer Persönlichkeitsstörung leide. Eine schwere Depression, wie der Beschwerdeführer sie behaupte, die auch zu einem Suizid führen könnte, werde darin noch nicht einmal ansatzweise beschrieben. Weder die Diagnose Depression, aber schon gar nicht die Schlussfolgerung einer Suizidgefahr bei Räumung könne der Beschwerdeführer mit Tatsachen untermauern. Deswegen hätten weder das Amtsgericht noch das Landgericht ein Gutachten zu dieser Frage einholen müssen. Es handele sich um Behauptungen, die lediglich ins Blaue hinein aufgestellt worden seien.

Gegen den Beschluss des Landgerichts über die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge, die das Landgericht mit verfahrensgegenständlichem Beschluss vom 14. Februar 2022 mangels Darlegung einer entscheidungserheblichen Gehörsverletzung als unzulässig verwarf.

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen.

Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird (vgl. BVerfGE 52, 214 <220 f.>; BVerfGK 6, 5 <10>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 2021 – 2 BvR 1786/20 -, Rn. 27 m.w.N.). Es ist Aufgabe der staatlichen Organe, Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit auszuschließen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2016 – 2 BvR 548/16 -, Rn. 12). Dies kann es erfordern, dass Beweisangeboten des Schuldners, ihm drohten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, besonders sorgfältig nachgegangen wird (vgl. BVerfGE 52, 214 <220 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2019 – 2 BvR 2425/18 -, Rn. 20 m.w.N.).

Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen – beim Fehlen eigener Sachkunde – zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2020 – VIII ZR 64/19 -, juris, Rn. 18; Beschluss vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18 -, BGHZ 222, 133, Rn. 48).

Der Tatrichter hat festzustellen, ob aufgrund einer Maßnahme der Zwangsvollstreckung ernsthaft mit einer Gefahr für Leib oder Leben des Schuldners zu rechnen ist. Die damit einhergehende Prognoseentscheidung hat er mit Tatsachen zu untermauern (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2014 – 2 BvR 2457/13 -, Rn. 13 m.w.N.).

Eine Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit kann im Vollstreckungsschutzverfahren nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids gegeben sein. Die Vollstreckung kann auch aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners begründen oder wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im Sinne von § 765a ZPO darstellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. September 1997 – 1 BvR 1147/97 -, juris, Rn. 7; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Februar 2014 – 2 BvR 2455/12 -, juris, Rn. 14; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Juli 2014 – 2 BvR 1400/14 -, juris, Rn. 12; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2022 – 2 BvR 661/22 -, Rn. 21; BGH, Beschlüsse vom 13. Oktober 2016 – V ZB 138/15 -, juris, Rn. 8; vom 13. August 2009 – I ZB 11/09 -, juris, Rn. 12).

Einzubeziehen sind zudem nicht nur die Gefahren für Leben und Gesundheit des Schuldners während des Räumungsvorgangs, sondern auch die Lebens- und Gesundheitsgefahren im Anschluss an die Zwangsräumung (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. September 1997 – 1 BvR 1147/97 -, juris, Rn. 7; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Februar 2014 – 2 BvR 2455/12 -, juris, Rn. 14; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2022 – 2 BvR 661/22 -, Rn. 21; BGH, Beschluss vom 13. August 2009 – I ZB 11/09 -, juris, Rn. 12).

Ist mit der Fortsetzung der Zwangsvollstreckung eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr verbunden, bedeutet dies noch nicht, dass ohne Weiteres Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO gewährt werden muss. Vielmehr ist eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht notwendig, wenn der Gefahr durch geeignete Maßnahmen begegnet werden kann. Dies setzt aber voraus, dass die Fachgerichte die Geeignetheit der Maßnahmen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt haben (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 2021 – 2 BvR 1786/20 -, juris, Rn. 28 m.w.N.).

Nach diesen Maßstäben ist der Beschluss des Landgerichts über die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde mit dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Grundrecht des Beschwerdeführers auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht zu vereinbaren. Das Landgericht ist seiner Pflicht, Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit auszuschließen und im Hinblick darauf den Sachverhalt aufzuklären und die Interessen der Beteiligten sorgfältig zu ermitteln, nicht in dem gebotenen Umfang nachgekommen.

Zwar hat das Beschwerdegericht eine durch die Räumung drohende Suizidgefahr mangels hinreichenden Vortrags des Beschwerdeführers verfassungsrechtlich unbedenklich ohne Beweiserhebung verneint (aa). Es ist aber den in dem Sachvortrag des Beschwerdeführers enthaltenen und durch das im Betreuungsverfahren eingeholte Sachverständigengutachten untermauerten Anhaltspunkten dafür, dass dem Beschwerdeführer durch die Zwangsvollstreckung sonstige erhebliche gesundheitliche Gefahren drohen könnten, nicht hinreichend nachgegangen (bb).

Der Vortrag des Beschwerdeführers zum Vorliegen einer Suizidgefahr ist unzureichend, weil die von ihm vorgelegten ärztlichen Unterlagen eine solche Gefahr nicht konkret beschreiben und hierfür auch keine entsprechenden Indizien beinhalten. Die zwischen April 2020 und Mai 2021 ausgestellten ärztlichen Atteste bescheinigen einzig eine fehlende Reise- und Gerichtsfähigkeit bis mindestens Ende des Jahres 2021. Aus dem psychiatrischen Gutachten vom 22. Juli 2021 ergibt sich nichts anderes. Vielmehr ist – worauf auch die Vollstreckungsgläubigerin hingewiesen hat – dort ausgeführt, es bestehe kein Anhalt für eine Suizidalität. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer in seinem Schriftsatz vom 13. Dezember 2021 lediglich vorgetragen, es sei ihm innerhalb der vom Amtsgericht (nach Verlängerung) bis zu diesem Tag gesetzten Frist nicht möglich gewesen, ein aktuelles fachärztliches Gutachten vorzulegen. Weshalb ihm dies auch im Nachgang dazu vor der landgerichtlichen Entscheidung vom 20. Dezember 2021 nicht möglich war, obwohl er am 15. Dezember 2021 einen zahnärztlichen Termin wahrnehmen konnte, hat der Beschwerdeführer nicht dargetan.

Ungeachtet dessen lagen für die Fachgerichte aufgrund des Vortrags des Beschwerdeführers und des von ihm vorgelegten psychiatrischen Gutachtens vom 22. Juli 2021 konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass im Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung sonstige erhebliche Gefahren für das Leben und die Gesundheit des Beschwerdeführers drohen könnten.

Der Beschwerdeführer hat bereits in seinem Vollstreckungsschutzantrag vom 29. November 2021 vorgetragen, aufgrund seines sich wesentlich verschlechternden gesundheitlichen Zustands, seines Alters, der Mietdauer, der psychischen Erkrankung und des Umstandes, dass er alleinstehend sei, bestehe eine deutlich verringerte Anpassungsfähigkeit an eine veränderte Umgebung. Dies begründe die Gefahr, dass er in einer neuen Umgebung seine Autonomie verliere und bald zum Pflegefall werden könne. Die Beschwernisse eines Umzugs oder gar einer Zwangsräumung brächten die konkrete Gefahr mit sich, dass der Beschwerdeführer jegliche Orientierung verliere. Zu berücksichtigen sei auch, dass er aufgrund seiner Erkrankungen und seines chronisch progredienten Leidens selbst nicht zur Bewältigung seiner Angelegenheiten in der Lage sei und bereits Schwierigkeiten habe, einfache administrative Angelegenheiten zu klären und zu erledigen, weshalb sein Verfahrensbevollmächtigter im Vollstreckungsverfahren ihn hierbei unterstütze und regelmäßig Gespräche mit ihm führe.

Diesen Vortrag hat er durch Vorlage des Sachverständigengutachtens vom 22. Juli 2021 untermauert. In diesem Gutachten wird ausgeführt, der Beschwerdeführer leide chronisch progredient an einem beginnenden dementiellen Syndrom mit deutlich wahnhafter Komponente und an einer Persönlichkeitsstörung. Aufgrund dieser psychischen Erkrankung könne er seinen Willen nicht mehr frei bestimmen beziehungsweise nicht entsprechend seiner Einsicht handeln. Das Krankheitsbild zeige einen Ausprägungsgrad, bei dem nach gutachterlicher Auffassung die Voraussetzungen zur Errichtung einer umfassenden Betreuung vorlägen. Es sei eine umfassende Unterstützung im Rahmen einer Betreuung zur Strukturierung der anstehenden Probleme erforderlich. Die psychische Erkrankung werde, dem bisherigen Verlauf folgend, auf unbestimmte Zeit fortbestehen. Erfahrungsgemäß zeige ein derartiges Krankheitsbild wenig Tendenz zur Stabilisierung. Aufgrund der Erkrankung könne der Beschwerdeführer nicht mehr Sorge für seine persönlichen Angelegenheiten tragen.

Vor diesem Hintergrund ist schon die Annahme des Landgerichts, es gebe keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage wäre, die Wohnung zu wechseln – nicht er selbst müsse den Umzug durchführen, dafür stünden Umzugsfirmen zur Verfügung –, nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, dass das Landgericht die Feststellungen des Sachverständigen zur psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers zwar referiert, sich mit deren Auswirkungen im Falle einer Zwangsräumung aber – jenseits der Frage einer nicht bestehenden Suizidgefahr – nicht weiter auseinandersetzt. Damit ist es der ihm obliegenden Pflicht, Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit auszuschließen und im Hinblick darauf den Sachverhalt aufzuklären und die Interessen der Beteiligten sorgfältig zu ermitteln, nicht gerecht worden. Vielmehr hätten es die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstände geboten, seinen Beweisangeboten nachzugehen und alle Erkenntnismittel auszuschöpfen, um überprüfen zu können, ob dem Beschwerdeführer tatsächlich aufgrund der von dem Sachverständigen diagnostizierten psychischen Erkrankung die behaupteten schwerwiegenden Gefahren für seine Gesundheit bis hin zur Pflegebedürftigkeit drohen und ob und wie diesen gegebenenfalls vor oder während einer Zwangsräumung begegnet werden kann.

Der Beschluss des Landgerichts vom 20. Dezember 2021 war deshalb wegen des Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG.

Ergeben sich bei der weiteren Prüfung durch das Landgericht, insbesondere bei Einholung eines Sachverständigengutachtens, nicht unerhebliche konkrete Gefahren für das Leben oder die Gesundheit des Beschwerdeführers durch eine Zwangsräumung, wird es zur Wahrung der Grundrechte der Vollstreckungsgläubigerin und zu der erforderlichen Abwägung der beiderseitigen Belange auch Feststellungen zu deren konkreter Situation und Interessenlage bedürfen. Das drängt sich vor allem deshalb auf, weil der Beschwerdeführer bereits im Vollstreckungsschutzverfahren vorgetragen hat, er werde alle Rückstände ausgleichen und die laufende monatliche Nutzungsentschädigung pünktlich bezahlen. Infolgedessen ist nicht auszuschließen, dass die einer Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Beschwerdeführers im konkreten Fall erheblich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. September 1997 – 1 BvR 1147/97 -, juris, Rn. 6; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Februar 2014 – 2 BvR 2455/12 -, juris, Rn. 15; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2014 – 2 BvR 2457/13 -, Rn. 15). Bei den vom Vollstreckungsgericht nachzuholenden Feststellungen wird das Gericht allerdings nicht nur die finanziellen Interessen der Vermieterin in den Blick zu nehmen und zu gewichten haben, sondern auch die von ihr vorgetragenen gesundheitlichen und sonstigen Belange, die bei der Gewährung von Vollstreckungsschutzmaßnahmen beeinträchtigt würden.

Darüber hinaus wird das Landgericht unter Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Mittel den Möglichkeiten einer Gefahrabwendung nachzugehen haben (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 2021 – 2 BvR 1786/20 -, juris, Rn. 37). Dabei kommt es nicht nur – wie vom Beschwerdeführer beantragt – in Betracht, die Zwangsvollstreckung dauerhaft auszusetzen. Das Landgericht wird auch zu prüfen haben, ob und gegebenenfalls in welchem Zeitraum eine Unterstützung für den Beschwerdeführer organisiert werden kann, die einer Gefahr für Leib und Leben im Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung hinreichend begegnet, so dass die Möglichkeit einer nur einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung greift.