OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 04.06.2025 – 9 W 13/25
Im Juni 2025 hat das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main entschieden, dass bereits der versehentliche Versand eines signierten Urteilsentwurfs mit ausformuliertem Tenor an die Parteien die Besorgnis der Befangenheit einer Richterin begründen kann. Maßgeblich ist dabei nicht, ob die Richterin tatsächlich befangen ist, sondern ob aus Sicht einer vernünftigen Partei objektiv der Anschein mangelnder Unparteilichkeit besteht. Im Folgenden wird der zugrundeliegende Fall erläutert, die rechtlichen Grundlagen und die Argumentation des Gerichts dargestellt sowie praktische Hinweise für den Umgang mit solchen Situationen gegeben.
Sachverhalt und Verfahrensgang
In einem zivilrechtlichen Streit um die Räumung und Herausgabe eines Gartengrundstücks vor dem Landgericht (LG) Frankfurt a.M. kam es zu einem ungewöhnlichen Vorfall. Die zuständige Vorsitzende Richterin – die den Fall als Einzelrichterin bearbeitete – hatte nach einer mündlichen Verhandlung einen Verkündungstermin anberaumt. Durch ein Versehen wurde den Parteien jedoch ein unvollständiger, aber bereits unterschriebener Urteilsentwurf zugestellt. Dieser Entwurf enthielt bereits den vollständig formulierten Tenor, der die Beklagten zur Räumung und Herausgabe des Gartengrundstücks verurteilte und ihnen die Kosten des Rechtsstreits auferlegte. Dem Tenor schlossen sich ein fragmentarischer Tatbestand und ebenso bruchstückhafte Entscheidungsgründe an.
Die Richterin bemerkte den Fehler kurze Zeit später und teilte den Parteien ausdrücklich mit, dass es sich bei dem versandten Dokument um einen „unvollständigen Entwurf“ handele, der keinerlei Rechtswirkung entfalte und zu ignorieren sei. Tatsächlich sei – wie im Verkündungsprotokoll vermerkt – an besagtem Verkündungstermin nicht etwa ein Urteil ergangen, sondern ein Beschluss mit neuer Terminsbestimmung verkündet worden. Trotz dieser Klarstellung beantragte eine der unterlegenen Parteien (die Beklagte zu 2) die Ablehnung der Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 42 ZPO). Die Begründung: Der versehentlich übersandte Urteilsentwurf lasse befürchten, dass die Richterin ihr Urteil bereits vorweggenommen habe und nicht mehr unvoreingenommen sei. Das LG wies den Befangenheitsantrag zunächst als unbegründet zurück. Daraufhin legte die Beklagte sofortige Beschwerde ein. Das OLG Frankfurt gab der Beschwerde statt, hob den LG-Beschluss auf und erklärte den Befangenheitsantrag für begründet.
Entscheidung des OLG Frankfurt
Das OLG Frankfurt stellte klar, dass der Befangenheitsantrag zu Recht gestellt war. Rechtsgrundlage ist § 42 Abs. 2 ZPO, wonach ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden kann, „wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen eine unparteiliche Amtsführung des abgelehnten Richters zu rechtfertigen“. Entscheidend ist dabei die Perspektive einer vernünftigen, objektiv urteilenden Partei: Es kommen „nur solche objektiven Gründe in Betracht, die aus der Sicht einer vernünftigen Partei die Befürchtung wecken können, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen und unparteiisch gegenüber“. Unerheblich ist demgegenüber, ob der Richter tatsächlich befangen ist oder sich selbst für befangen hält. Mit anderen Worten: Nicht die innere Einstellung oder tatsächliche Unparteilichkeit des Richters ist ausschlaggebend, sondern ob **durch objektive Umstände der Anschein einer Voreingenommenheit entstehen kann.
Im konkreten Fall sah der Senat einen solchen objektiv nachvollziehbaren Grund für Misstrauen als gegeben an. Aus Sicht einer vernünftig denkenden beklagten Partei konnte die versehentliche Übersendung des Urteilsentwurfs durchaus den Eindruck erwecken, die Richterin habe sich bereits auf das Ergebnis festgelegt – nämlich auf eine Verurteilung der Beklagten. Dieser Eindruck wurde vor allem durch den bereits formulierten und unterschriebenen Urteilstenor zugunsten der Klägerseite hervorgerufen. Auch die nachträgliche Klarstellung der Richterin und die Anberaumung eines neuen Termins zur Beweisaufnahme änderten aus Sicht des OLG nichts an diesem Eindruck: Es bleibt der „nicht wieder rückgängig zu machende objektive Eindruck“, die Richterin habe die Klage bereits für begründet erachtet und das weitere Verfahren diene nur noch dazu, dieses Ergebnis im Nachhinein besser zu begründen.
Die Zivilprozessordnung (ZPO) bildet den gesetzliche Rahmen für Ablehnungsgesuche wegen Befangenheit. Wichtig ist dabei der objektive Anschein der Voreingenommenheit, nicht die innere Haltung des Richters.
Besondere Bedeutung maß das OLG dem Umstand bei, dass die Entscheidung von einer Einzelrichterin getroffen wurde. Wäre die Richterin Mitglied einer mehrköpfigen Kammer, könnte ein zunächst formulierter Urteilsentwurf ggf. als bloßer interner Diskussionsvorschlag innerhalb des Gerichts gewertet werden. Hier hingegen entschied die Richterin allein, sodass der übersandte Entwurf nicht die Funktion eines kammerinternen Entwurfs hatte, sondern direkt die (vorläufige) Entscheidung der einzigen entscheidenden Richterin widerspiegelte. Der Anschein der Vorentscheidung wurde dadurch noch verstärkt.
Weiter betonte der Senat, dass einmal entstandenes Misstrauen in die Unparteilichkeit durch nachträgliche Erklärungen der Richterin nicht ausgeräumt werden kann, insbesondere wenn – wie hier – der Eindruck der Voreingenommenheit durch ein formales Dokument wie einen unterschriebenen Urteilsentwurf hervorgerufen wurde. Auch der Hinweis der Richterin, der Entwurf entfalte keine rechtliche Wirkung, konnte dieses Misstrauen objektiv nicht beseitigen. Schließlich ließ das Gericht auch nicht gelten, dass die Richterin persönlich gar kein Fehlverhalten begangen habe und der Fehler möglicherweise auf die Geschäftsstelle zurückzuführen sei. Selbst wenn interne Arbeitsabläufe (wie das Erstellen von Urteilsentwürfen) üblich und die Richterin tatsächlich unbefangen waren, spielt dies keine Rolle. Entscheidend sei allein, dass die versehentliche Übersendung des (unterzeichneten) Entwurfs objektiv geeignet war, Misstrauen in ihre Unparteilichkeit zu säen.
Im Ergebnis begründete also dieser eine Vorfall – der Versand des Urteilentwurfs – bereits für sich genommen die Besorgnis der Befangenheit. Andere von der Beklagtenseite vorgebrachte Umstände brauchten nicht mehr entschieden zu werden. Zur Einordnung: Die Beklagte hatte zusätzlich bemängelt, die Richterin habe in einem späteren Beschluss sachfremde Erwägungen angestellt (etwa durch Anordnung einer aus ihrer Sicht überflüssigen Beweisaufnahme) und einen Antrag auf Verhandlung per Videokonferenz (§ 128a ZPO) willkürlich abgelehnt. Das OLG stellte jedoch klar, dass diese Punkte – für sich genommen – nicht ausgereicht hätten, eine Befangenheit zu begründen, sodass es darauf im Ergebnis nicht mehr ankam. Insbesondere könne die Unanfechtbarkeit der Entscheidung über eine Videoverhandlung (§ 128a Abs. 3 S. 2 ZPO) nicht durch einen Befangenheitsantrag umgangen werden – mit anderen Worten: rein prozesstaktische Unzufriedenheit mit solchen (nicht anfechtbaren) Entscheidungen rechtfertigt in der Regel keinen Ablehnungsgrund.
Rechtliche Einordnung
Der Beschluss des OLG Frankfurt a.M. reiht sich in die ständige Rechtsprechung zur Besorgnis der Befangenheit ein und illustriert anschaulich, wie streng die Gerichte den Maßstab des objektiven Beobachters anlegen. Nach § 42 Abs. 2 ZPO ist nicht entscheidend, ob die Richterperson tatsächlich parteiisch oder vorgefasst ist. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob ein besonnener Verfahrensbeteiligter bei vernünftiger Betrachtung Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Damit dient das Ablehnungsrecht dem Vertrauen in die objektive Neutralität der Gerichtsbarkeit: Schon der böse Schein einer möglichen Voreingenommenheit soll vermieden werden, um die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen bei den Parteien sicherzustellen.
Im vorliegenden Fall war der „böse Schein“ einer Vorfestlegung klar erkennbar. Indem die Partei einen unterzeichneten Tenor zu ihren Lasten erhielt, konnte sie – aus ihrer Sicht nachvollziehbar – den Schluss ziehen, das Gericht habe ihr Verfahren bereits verloren gegeben. Selbst wenn interne Entscheidungsentwürfe üblich sind, gelangen sie normalerweise nicht nach außen. Werden sie aber (wenn auch irrtümlich) bekannt, können sie das Vertrauen in die Offenheit des Verfahrens zerstören. Denn ein wesentliches Prinzip ist, dass das Gericht seine Entscheidung erst nach Abschluss der Verhandlung und Würdigung aller bis dahin vorgebrachten Argumente und Beweise bildet. Ein vorab feststehendes Ergebnis widerspräche der richterlichen Unvoreingenommenheit.
Hervorzuheben ist, dass die Schwelle für eine erfolgreiche Ablehnung wegen Befangenheit hoch ist. Ein Ablehnungsgesuch darf kein Mittel der Unzufriedenheit mit prozessualen Entscheidungen sein. So reichen etwa rechtliche Fehleinschätzungen oder prozessuale Entscheidungen eines Richters – so lange sie nicht krass willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind – für sich genommen nicht aus, um die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Im OLG-Fall waren die zusätzlichen Beanstandungen (etwa die Ablehnung der Videoverhandlung) daher isoliert betrachtet nicht hinreichend. Erst das konkrete außergewöhnliche Ereignis, dass ein fast fertiges Urteil zugunsten einer Seite vorschnell kommuniziert wurde, erfüllte den Befangenheitsgrund. Diese Situation ist juristisch besonders brisant, weil sie den Anschein erweckt, der Prozessausgang stünde pro forma bereits fest.
Aus der Entscheidung lässt sich entnehmen, dass Gerichte selbst bei einmaligen Versehen strikt die Objektivität und Transparenz des Verfahrens verteidigen. Die Integrität der Justiz setzt voraus, dass Richter nicht nur unparteiisch entscheiden, sondern dass dies auch für alle Verfahrensbeteiligten glaubhaft und nachvollziehbar ist. Das OLG betonte daher zu Recht, dass selbst der unabsichtliche Anschein von Voreingenommenheit ausreicht, um das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit zu erschüttern.
Bemerkenswert ist auch die Konsequenz der Entscheidung: Die Ablehnung wurde für begründet erklärt. In der Praxis bedeutet dies, dass die abgelehnte Richterin von dem konkreten Verfahren ausgeschlossen wird. Das Verfahren wird an ihrer Stelle von einer anderen Richterin oder einem anderen Richter fortgeführt. Der beschriebene Vorfall hatte also nicht nur eine rügende Wirkung, sondern führte tatsächlich dazu, dass die Zusammensetzung des Gerichts geändert wurde, um das objektive Verfahren sicherzustellen.
Praxishinweise für die Anwaltschaft und Gerichte
Für Anwältinnen und Anwälte zeigt dieser Fall deutlich, wie wichtig es ist, im Interesse der Mandanten auf Neutralität des Gerichts zu achten. Sollte in einem Verfahren ein vergleichbarer Vorfall auftreten – etwa die vorzeitige Preisgabe der gerichtlichen Entscheidungsfindung durch ein Versehen oder durch unbedachte Äußerungen des Gerichts – sollte umgehend ein Befangenheitsantrag geprüft werden. Dabei ist Eile geboten: Ein Ablehnungsgesuch muss unverzüglich im Sinne von § 43 ZPO gestellt werden, sobald der Beteiligte vom Ablehnungsgrund Kenntnis erlangt. Andernfalls läuft man Gefahr, das Recht auf Ablehnung zu verlieren, weil Zuwarten als Verzicht gewertet werden kann. Das bedeutet in der Praxis, dass man den Sachverhalt sorgfältig dokumentieren und ohne schuldhaftes Zögern bei Gericht vorbringen sollte. (Der Bundesgerichtshof hat etwa entschieden, dass selbst ein Zuwarten von eineinhalb Tagen noch „unverzüglich“ sein kann, wenn es zur Entscheidungsfindung des Anwalts erforderlich war – länger sollte man jedoch möglichst nicht warten.)
Gleichzeitig ist zurückhaltende Sorgfalt geboten: Nicht jeder ungünstige Hinweis des Gerichts oder jede prozessuale Entscheidung, die der eigenen Rechtsauffassung widerspricht, rechtfertigt sofort einen Befangenheitsantrag. Die Hürden für die Annahme von Befangenheit sind bewusst hoch, um missbräuchliche Ablehnungsgesuche zu vermeiden. Anwältinnen und Anwälte sollten daher genau abwägen und den Mandanten auch dahingehend beraten, dass ein Befangenheitsantrag nur bei klaren Anzeichen einer Voreingenommenheit gestellt werden sollte. Werden Ablehnungsgesuche leichtfertig gestellt, kann dies das Verhältnis zum Gericht belasten und im schlimmsten Fall als unzulässige Verfahrensverzögerung ausgelegt werden.
Für Richter und die Gerichtsverwaltung ist der Fall ein eindringliches Beispiel dafür, wie entscheidend Sorgfalt in der Kommunikation mit den Verfahrensbeteiligten ist. Intern gebliebene Vorbereitungen (wie Urteilentwürfe oder Meinungsbilder) dürfen keinesfalls nach außen dringen, bevor die Entscheidung offiziell getroffen und verkündet ist. Gerichtsgeschäftsstellen sollten Versandvorgänge aufmerksam prüfen, insbesondere wenn Entwürfe in der elektronischen Akte gespeichert sind, um Verwechslungen zu vermeiden. Sollte doch einmal ein derartiges Versehen passieren, ist eine umgehende und transparente Korrektur – wie hier durch die dienstliche Äußerung der Richterin – zwar geboten, reicht aber möglicherweise nicht aus, um das entstandene Vertrauen wiederherzustellen. In einer solchen Situation ist es für die Gerichtsbeteiligten sinnvoll, die Konsequenzen proaktiv zu bedenken. Gegebenenfalls kann es – im Interesse des Ansehens der Justiz – sogar angebracht sein, dass die Richterin oder der Richter von sich aus über einen Selbstablehnungsantrag (§ 48 ZPO) nachdenkt, um weiteren Schaden vom Verfahren abzuwenden.
Nicht zuletzt gilt: Der Grundsatz der unparteiischen Rechtsprechung erstreckt sich über alle Gerichtsbarkeiten hinweg. Die vorliegende Entscheidung erging im Zivilprozess, doch im Arbeitsgerichtsverfahren gelten dieselben Maßstäbe (über § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 42 ZPO). Arbeitsrechtliche Praktiker sollten also ebenso aufmerksam sein. Wenn etwa im Kündigungsschutzprozess ein Richter durch vorschnelle Hinweise oder schriftliche Versehen den Eindruck erweckt, das Ergebnis stehe schon fest, kann und sollte ein Befangenheitsantrag in Erwägung gezogen werden – zum Schutz der eigenen Partei und der integren Verfahrensführung.
Das OLG Frankfurt macht mit seinem Beschluss unmissverständlich deutlich, dass schon der Anschein einer Vorentscheidung durch das Gericht inakzeptabel ist. Die Besorgnis der Befangenheit soll gewährleisten, dass Parteien auf einen fairen, ergebnisoffenen Prozess vertrauen dürfen. Im Ergebnis musste in dem besprochenen Fall die Richterin den Fall abgeben, weil ein einmal erschüttertes Vertrauen nicht mehr repariert werden konnte. Für die Praxis bedeutet dies zweierlei: Zum einen sollten Rechtsanwälte wachsam bleiben und im Zweifel von dem Instrument des Befangenheitsantrags Gebrauch machen, wenn objektive Gründe für Zweifel an der Neutralität des Gerichts vorliegen. Zum anderen sollten Gerichte größtmögliche Sorgfalt walten lassen, um jedes Missverständnis über ihre Unparteilichkeit zu vermeiden. Die Entscheidung aus Frankfurt erinnert daran, dass Justizia nicht nur blind, sondern auch unbefangen erscheinen muss – im Zweifel lieber mit einer neuen Richterbank als mit einem Makel fortverfahren.