Verurteilung in Abwesenheit: Bundesverfassungsgericht betont Anspruch auf faires Verfahren und Notwendigkeit der Verteidigung bei drohender Freiheitsstrafe

19. Mai 2025 -

Bundesverfssungsgericht, Beschluss vom 27.03.2025, Az. 2 BvR 829/24

Hintergrund und Sachverhalt

Der Beschwerdeführer wurde vom Amtsgericht Frankfurt am Main zunächst wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen verurteilt. Gegen dieses Urteil legten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte Berufung ein. Die Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt/Main wurde schließlich zu einem Wendepunkt – jedoch nicht im Sinne der Verteidigung:

Zwei Tage vor dem Termin meldete sich der Verteidiger des Angeklagten krank und war verhandlungsunfähig. Das Landgericht verlegte den Termin jedoch nicht, obwohl der Angeklagte – mutmaßlich wegen der Krankmeldung seines Verteidigers – selbst nicht erschien. Es verwarf in Abwesenheit des Angeklagten dessen Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO und verhandelte allein über die Berufung der Staatsanwaltschaft. Das Ergebnis war eine empfindliche Verschärfung des Strafmaßes: Das Landgericht verhängte gegen den Angeklagten unter Einbeziehung anderer Urteile eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren – ohne Bewährung.

Die hiergegen eingelegte Revision des Angeklagten verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main als unzulässig. In der Folge trat der Angeklagte seine Haft an und erhob gleichzeitig Verfassungsbeschwerde. Zur Sicherung seiner Rechte beantragte er den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Mit Beschluss vom 27. März 2025 gab das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde statt – zumindest im Wege der einstweiligen Anordnung. Die Strafvollstreckung wurde ausgesetzt, da die Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet sei.

Maßstab: Recht auf ein faires Verfahren

Zentraler Prüfungsmaßstab war das aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitende Gebot eines fairen, rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Dieses umfasst insbesondere:

  • das Anwesenheitsrecht des Angeklagten in der Hauptverhandlung,
  • den Anspruch auf wirksame Verteidigung,
  • die gebotene Sachverhaltsaufklärung und
  • die Berücksichtigung prozessualer Rechte im Hinblick auf die Strafzumessung.

Verletzung des Anspruchs auf notwendige Verteidigung

Das BVerfG stellte fest, dass dem Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt eine Konstellation der sog. „notwendigen Verteidigung“ im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO zugrunde lag. Eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren (und sei es auch erst als Ergebnis der Berufungsverhandlung) verlangt die Mitwirkung eines Verteidigers – unabhängig davon, ob dieser bereits zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung bestellt ist.

Dass der Verteidiger krankheitsbedingt verhindert war, hätte das Landgericht veranlassen müssen, den Termin zu verlegen. Eine Verurteilung in Abwesenheit von Verteidiger und Angeklagtem zu einer Freiheitsstrafe ist mit den verfassungsrechtlichen Garantien nicht zu vereinbaren. Ein solcher Verzicht auf effektive Verteidigung sei ein schwerwiegender Verfahrensfehler.

Anforderungen an die Revision: Kein überspannter Begründungszwang

Auch das Oberlandesgericht geriet in den Fokus der verfassungsgerichtlichen Kritik: Die Anforderungen an die Revision seien überspannt worden. Eine zulässige Revisionsbegründung dürfe nicht davon abhängig gemacht werden, dass Verteidiger oder Angeklagter Tatsachen vortragen, die ihnen aufgrund ihrer Abwesenheit in der Hauptverhandlung gar nicht bekannt sein konnten. Die Unzulässigkeit der Revision wurde daher verfassungsrechtlich beanstandet.

Folgenabwägung zugunsten des Beschwerdeführers

Im Rahmen der §§ 32, 93d BVerfGG stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass dem Beschwerdeführer ohne Aussetzung des Strafvollzugs ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Nachteil drohe, der über das bloße Freiheitsentziehen hinausgeht: Ein solches Verfahren in Abwesenheit bei gleichzeitigem Verlust der Verteidigungskompetenz könne irreparabel sein. Angesichts der „offensichtlichen“ Relevanz der Verfassungsbeschwerde wurde daher die Strafvollstreckung bis zur Entscheidung in der Hauptsache ausgesetzt.


 Bedeutung für die strafrechtliche Praxis

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist nicht nur ein Einzelfall in einem Berufungsverfahren, sondern ein deutliches Signal an die Strafgerichte. Der Beschluss verdeutlicht:

  • Die Anforderungen an die Wahrung der Verteidigerrechte sind besonders hoch, wenn Freiheitsentzug im Raum steht. Ein Gericht darf einen Hauptverhandlungstermin nicht aufrechterhalten, wenn der Verteidiger krankheitsbedingt verhindert ist, selbst wenn keine neue Ladung erfolgt ist.
  • § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist strikt auszulegen: Sobald eine Freiheitsstrafe als Ergebnis einer Berufungsverhandlung ernsthaft in Betracht kommt, liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor.
  • Verfassungsrechtliche Kontrolle der Revisionspraxis: Die Anforderungen an die Zulässigkeit einer Revision dürfen nicht so hoch angesetzt werden, dass effektiver Rechtsschutz faktisch vereitelt wird – insbesondere dann nicht, wenn die Unkenntnis über das Verfahren auf der Abwesenheit des Angeklagten beruht.

Fazit und Einordnung

Die Entscheidung 2 BvR 829/24 ist ein mahnendes Beispiel für die Konsequenzen einer verfahrensrechtlichen Missachtung des Grundsatzes des fairen Verfahrens. Sie hebt hervor, dass die Wahrung elementarer Verteidigungsrechte nicht zur Disposition von Gerichten steht – auch nicht im Kontext überlasteter Strafjustiz oder terminlicher Zwänge.

Gerade bei schwerwiegenden Sanktionen wie der Verhängung von Freiheitsstrafen ohne Bewährung ist die Sicherstellung rechtsstaatlicher Mindeststandards kein formales Gebot, sondern eine zentrale Voraussetzung für die Legitimität staatlichen Strafens. Das Bundesverfassungsgericht erinnert mit diesem Beschluss eindringlich daran, dass das Strafverfahren kein Selbstzweck ist, sondern dem Schutz der Menschenwürde und der Gerechtigkeit verpflichtet bleibt.