Verwertbarkeit von Radarmessungen ohne Rohmessdaten – OLG Saarbrücken legt Vorlage an den BGH vor

Am 10. April 2025 hat das Oberlandesgericht (OLG) Saarbrücken mit dem Beschluss 1 Ss (OWi) 112/24 eine für die Bußgeldpraxis bedeutsame Rechtsfrage dem Bundesgerichtshof (BGH) zur höchstrichterlichen Entscheidung vorgelegt: Sind Geschwindigkeitsmessungen, bei denen die sogenannten Rohmessdaten nicht gespeichert werden, im Bußgeldverfahren verwertbar oder verstoßen sie gegen das Recht auf ein faires Verfahren? Diese Vorlage fasst nicht nur die divergierenden Landesrechtsprechungen zusammen, sondern beleuchtet auch die verfahrensrechtlichen und technischen Implikationen für Behörden, Gerichte und Verteidiger.


Sachverhalt

Messvorgang

Im Saarland kam ein laser- beziehungsweise radar­messgerät eines gängigen Herstellers zum Einsatz, das im Rahmen einer öffentlichen Geschwindigkeitskontrolle eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 25 km/h in einer 50-er Zone registrierte.

Die Messung ergab einen Messwert von 75 km/h.

Antrag auf Rohdaten-Einsicht

Der Betroffene beantragte bei der Bußgeldstelle Akteneinsicht in die bei der Messung erzeugten Rohmessdaten (d.h. Pulskurven, Zeitstempel und Signalstärken), um eine mögliche Fehlfunktion oder Bedienungsfehler – etwa durch Mehrfachmessungen aufgrund reflektierender Oberflächen – prüfen zu können.

Die Behörde verwies darauf, dass lediglich die verarbeiteten Ergebnisdaten (Endgeschwindigkeit, Datum/Uhrzeit, Position) prüfungsrelevant seien und die Speicherung der Rohdaten technisch nicht vorgesehen sei.

Instanzenzug

Das Amtsgericht Saarbrücken verwarf den Antrag auf Einsicht; die Rohdaten seien für die Beweiserhebung nicht erforderlich, da das Gerät ordnungsgemäß geeicht und gewartet war.

Das OLG Saarbrücken hob diese Entscheidung auf und legte den Fall dem BGH mit der dringlichen Vorlagefrage vor, um bundesweit Rechtssicherheit zu schaffen.


Verfahrensrechtlicher Rahmen

Grundsatz des fairen Verfahrens

  • Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert das Recht auf ein faires Verfahren mit wirksamer Verteidigung.
  • Art. 103 Abs. 1 GG sichert den Anspruch auf rechtliches Gehör und vollständige Information über die tatsächliche Grundlage des Verfahrens.
  • Daraus folgt, dass der Betroffene in die Lage versetzt werden muss, die Richtigkeit des Messergebnisses umfassend nachzuvollziehen und zu widerlegen.

Einsichts- und Beibringungsgebot

  • Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist der Staat verpflichtet, die zur Sachverhaltsaufklärung notwendigen Akten- und Beweismittel bereitzustellen.
  • Ohne Rohmessdaten kann der technische Messvorgang nicht vollständig rekonstruiert werden, weshalb eine substantive Verteidigung (z. B. durch Sachverständigengutachten) erschwert wird.

Bisherige Landesrechtsprechung

Bundesland OLG-Entscheidung Haltung zur Rohdaten-Speicherung
Saarland (OLG Saarbr.) Vorlage an den BGH (1 Ss (OWi) 112/24) Rohdaten erforderlich für faires Verfahren
Sachsen (OLG Dresden) OLG Dresden, Beschl. v. 12 . 11. 2021 – 4 R 1/21 Ohne Rohdaten verwertbar bei ordnungsgemäßer Eichung
Nordrhein-Westfalen (OLG Düsseldorf) Beschl. v. 05 . 07. 2022 – IV-3 RBs 67/22 Speicherung nicht zwingend, Technikstandard ausreichend

Saarländische Sonderstellung: Das Saarland folgt einer Entscheidung des VerfGH Saarland (2019), wonach ohne Rohdaten der Messvorgang nicht lückenlos überprüfbar sei.

Bundesweite Uneinheitlichkeit: Andere OLG akzeptieren die standardisierten Eich- und Funktionsprüfungen als hinreichend und sehen keine Pflicht zur Rohdatenspeicherung.


Technisch-wissenschaftliche Aspekte

Rohmessdaten (Pulskurven):

Sie dokumentieren die physikalischen Impulse und ihre zeitliche Abfolge.

Anhand dieser Daten lassen sich Mehrfachreflexionen, Störungen durch Fremdkörper oder Mess-„Überläufer“ (Ghost-Peaks) identifizieren.

Funktionsprüfungen und Eichnachweise:

  • Regelmäßige Eichung, Justage und Wartung schaffen nach heutiger Rechtslage die Grundlage für die Verwertbarkeit.
  • Dokumentationslücken bei Protokollen können jedoch zu Zweifeln an der Messqualität führen, wenn die Rohdaten fehlen.

Stellungnahme und Leitsatzvorschlag

Das OLG Saarbrücken regt an, den folgenden Leitsatz dem BGH vorzulegen:

„Eine zur Feststellung der Geschwindigkeits­überschreitung eingesetzte Anlagenmessung ist nur dann im Bußgeldverfahren verwertbar, wenn die bei der Messung erzeugten Rohmessdaten gespeichert und dem Betroffenen auf Verlangen zur Verfügung gestellt werden, damit dieser das Messergebnis technisch und sachlich nachprüfen kann.“


Praktische Implikationen

Für Betroffene und Verteidiger

  • Anträge auf Rohdaten-Einsicht: Schon jetzt sollten Verteidiger in vergleichbaren Verfahren umfassend Einsicht in alle digitalen Messunterlagen verlangen.
  • Sachverständigengutachten: Liegen Rohdaten vor, ermöglichen sie eine detaillierte technische Analyse und können Messabweichungen aufdecken.

Für Behörden und Gerichte

  • Datenmanagement anpassen: Messgeräte-Hersteller und Bußgeldstellen sollten technische Nachrüstungen zur Speicherung der Rohdaten prüfen.
  • Protokollierung verbessern: Unabhängig vom Ausgang der BGH-Entscheidung empfiehlt sich eine lückenlose Dokumentation aller Eich- und Funktionsprüfungen.

Für die Rechtspflege insgesamt

  • Vereinheitlichung erstreben: Eine bundesweit einheitliche Vorgabe des BGH stärkt die Rechtssicherheit und verhindert unterschiedliche Verwertungspraktiken.
  • Fortbildung und Leitfäden: Richter, Staatsanwaltschaften und Bußgeldbehörden benötigen praxisnahe Schulungen zu digitalen Beweismitteln und deren Auswertung.

Ausblick

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird maßgeblich bestimmen, wie in Zukunft mit digitalen Messdaten im Bußgeldverfahren verfahren wird. Das OLG Saarbrücken hat eine richtungsweisende Vorlage geschaffen, die das Spannungsfeld zwischen modernster Messtechnik und verfahrensrechtlichen Schutzgarantien in den Mittelpunkt stellt. Unabhängig vom endgültigen Ausgang sollten alle Verfahrensbeteiligten jetzt bereits ihre internen Abläufe überprüfen und – wo nötig – anpassen, um auf die höchstrichterliche Klärung vorbereitet zu sein.