VGH Kassel: Hilfskriterien müssen im Auswahlverfahren nicht vorab festgelegt sein

21. November 2025 -

Hintergrund: Gleich geeignete Bewerber im Beförderungsverfahren

In einem aktuellen Beschluss vom 13.10.2025 (Az. 1 B 1651/25) hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel eine wichtige Klarstellung für Beamte getroffen. Konkret ging es um zwei Bewerber – eine Vizepräsidentin eines Landgerichts und einen Vizepräsidenten eines Amtsgerichts – die sich auf dieselbe freiwerdende Präsidentenstelle am Amtsgericht beworben hatten. Beide Bewerber wurden in ihren dienstlichen Beurteilungen mit identischem Gesamturteil als gleichermaßen geeignet eingestuft. Dieser qualifikationsmäßige Gleichstand (auch „qualifikatorisches Patt“ genannt) stellte den Dienstherrn vor die Herausforderung, entscheiden zu müssen, wer den Vorzug erhält, obwohl auf den ersten Blick keiner der beiden fachlich besser war.

Der Dienstherr versuchte zunächst, durch eine feinere Analyse der Beurteilungen (eine sog. „Ausschärfung der Gesamturteile“) minimale Unterschiede herauszuarbeiten, um einen Qualifikationsvorsprung eines Bewerbers zu begründen. Hierbei wurden Formulierungsnuancen in den Beurteilungen – etwa Begriffe wie „hervorragend, herausragend“ vs. „in höchstem Maße“ – verglichen. Da diese Versuche jedoch unzulässig waren (die Gutachter hatten erkennbar beiden Kandidaten Bestnoten in allen Einzelmerkmalen geben wollen, so dass an Formulierungsunterschieden kein echtes Leistungsgefälle festzumachen war), blieb es dabei: Beide Bewerber galten nach den dienstlichen Beurteilungen als gleich geeignet.

Entscheidung des VGH Kassel: Auswahl mit Hilfskriterien und Ermessen des Dienstherrn

Angesichts dieses leistungsgleichen Bewerberfeldes griff der Dienstherr in der nächsten Stufe des Auswahlverfahrens auf zusätzliche Auswahlkriterien – sogenannte Hilfskriterien – zurück. Diese Hilfskriterien sollten eine Entscheidung im Sinne des Bestenausleseprinzips ermöglichen, also die am besten geeignete Person für das konkrete Amt herausfiltern. Im vorliegenden Fall stützte sich der Dienstherr hilfsweise auf Kriterien wie die Breite der Verwendungen (Erfahrung in verschiedenen Funktionen) und die Dauer der Tätigkeit im aktuellen Statusamt. Wichtig: Diese zusätzlichen Kriterien waren weder in der Stellenausschreibung noch im Anforderungsprofil vorab erwähnt. Die unterlegene Bewerberin (LG-Vizepräsidentin) sah darin einen Verstoß und erhob Konkurrentenklage: Sie beanstandete sowohl die vorgenommene Ausschärfung als auch die Heranziehung der neuen Hilfskriterien, und erreichte beim Verwaltungsgericht (VG) zunächst einen Stopp der Stellenbesetzung.

Der VGH Kassel beurteilte den Fall jedoch anders und hob die erstinstanzliche Entscheidung auf. In seinem Beschluss vom 13.10.2025 stellte der VGH klar, dass die Auswahlentscheidung rechtmäßig getroffen wurde. Entscheidend war die Feststellung, dass hier ein „qualifikatorisches Patt“ vorlag, also ein völliger Gleichstand nach Leistung und Eignung. Für eine solche Konstellation billigte der VGH dem Dienstherrn ausdrücklich Ermessen zu, mittels weiterer qualifikationsbezogener Hilfskriterien eine Entscheidung herbeizuführen. Mit anderen Worten: Wenn zwei Bewerber nach den Hauptkriterien gleichauf sind, dürfen zusätzliche Kriterien herangezogen werden, um die Bestenauslese zu gewährleisten. Welche Hilfskriterien im Einzelnen verwendet werden, liegt im Ermessen der Behörde, solange sie sachlich auf die bestmögliche Besetzung des konkreten Amtes ausgerichtet sind. Im Fall der AG-Präsidentenstelle bewertete der VGH die gewählten Kriterien – Vielfältigkeit der Verwendung (Verwendungsbreite) und Dienstzeit im aktuellen Amt (Tätigkeitsdauer) – als sachgerecht und zielführend für die Entscheidung.

Bemerkenswert ist die Flexibilität bei der Festlegung von Hilfskriterien, die der VGH hervorhob. Eine vorherige Bekanntgabe oder Fixierung dieser Hilfskriterien in Ausschreibung oder Anforderungsprofil ist nicht erforderlich. Der VGH stellte ausdrücklich fest, dass keine Verpflichtung besteht, Hilfskriterien schon im Vorfeld für den Fall eines Leistungs-Patt festzulegen. Eine gegenteilige Forderung – also das Vorab-Festschreiben aller möglichen Entscheidungsparameter – würde nach Auffassung des Gerichts die Anforderungen an die Verwaltung überdehnen und praktisch nur schwer umsetzbar machen. Für die Praxis bedeutet das: Personalentscheidungen dürfen situativ auf zusätzliche Kriterien gestützt werden, sofern ein objektiver Gleichstand nach den regulären Beurteilungen vorliegt. Solche Kriterien müssen aber leistungsbezogen sein und dem Ziel dienen, im Sinne von Artikel 33 Abs. 2 GG (Leistungsgrundsatz) den am besten geeigneten Bewerber auszuwählen.

Rangfolge der Hilfskriterien: Leistungsprinzip vor anderen Kriterien

Im Übrigen bestätigte der VGH Kassel auch die hierarchische Rangfolge bei der Anwendung von Hilfskriterien. Zuerst sind leistungsbezogene Kriterien auszuschöpfen – also solche, die unmittelbar mit Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu tun haben. Erst wenn danach immer noch Gleichstand herrscht, dürfen nachgeordnete, nicht leistungsbezogene Hilfskriterien herangezogen werden. Ein Beispiel für Letzteres ist die Frauenförderung: Zwar gibt es im Beamtenrecht und Gleichstellungsrecht Vorschriften, die bei gleicher Qualifikation eine Bevorzugung von Frauen vorsehen können, jedoch zählt die Geschlechtsförderung nicht zu den leistungsbezogenen Kriterien. Der VGH stellte klar, dass eine Bewerberin nicht allein aufgrund von Frauenförderungsgeboten den Vorzug erhalten muss, solange bereits anhand weiterer leistungsbezogener Kriterien ein Unterschied zwischen den Bewerbern hergestellt werden kann. Im vorliegenden Fall war genau das geschehen – die zusätzlichen fachlichen Kriterien führten zur Auswahl des konkurrierenden Bewerbers, sodass kein fortbestehender Gleichstand mehr vorlag und Frauenförderung nicht zum Tragen kam. Diese Klarstellung betont, dass Leistungsaspekte immer vorrangig zu behandeln sind und soziale Ausgleichskriterien wie Gleichstellung oder Altersvorsprung erst als letztes Mittel dienen, wenn wirklich keinerlei Leistungsunterschied feststellbar ist.

Tipp für Beamte in Bewerbungsverfahren

Für Beamte und Beamtinnen, die sich auf Beförderungsstellen oder höhere Ämter bewerben, lässt sich aus diesem Beschluss Folgendes mitnehmen: Bleiben zwei Bewerber nach den regulären Beurteilungskriterien gleichauf, darf der Dienstherr auf zusätzliche Hilfskriterien zurückgreifen, um eine Entscheidung herbeizuführen. Diese Kriterien können etwa umfangreichere Berufserfahrung, breiter gefächerte Verwendung in verschiedenen Positionen oder längere Dienstzeiten umfassen – auch wenn sie nicht ausdrücklich in der Stellenausschreibung genannt waren. Eine solche Vorgehensweise ist rechtmäßig, solange die Kriterien objektiv mit der Eignung für das angestrebte Amt zusammenhängen und den Grundsatz der Bestenauslese unterstützen. Bewerber sollten also wissen, dass eine rechtliche Anfechtung nicht schon deshalb Erfolg hat, weil im Auswahlgespräch oder in der Entscheidung plötzlich weitere Kriterien eine Rolle spielten, die vorher nicht bekannt waren. Vielmehr kommt es darauf an, ob ein echter Leistungsvergleich durchgeführt wurde und ob die Hilfskriterien erst nach einem festgestellten Gleichstand und in sachgerechter Weise angewandt wurden.

Wichtig für unterlegene Bewerber: Die Tatsache, dass man in der Auswahl nicht berücksichtigt wurde, obwohl man formal gleich bewertet war, ist nach dieser Rechtsprechung alleine kein Rechtsfehler, wenn der Dienstherr den Gleichstand korrekt festgestellt und dann vertretbare Hilfskriterien angewandt hat. Chancen für eine erfolgreiche Konkurrentenklage bestehen vor allem dann, wenn etwa das Leistungsranking fehlerhaft ermittelt wurde, ungeeignete oder unsachliche Hilfskriterien genutzt wurden oder wenn gegen die oben genannte Rangfolge (Leistungsprinzip vor z.B. Frauenförderung) verstoßen wurde. Ansonsten bestätigt der VGH Kassel, dass Personalverantwortliche einen gewissen Spielraum haben, um die bestmögliche Besetzung sicherzustellen – auch durch im Vorfeld nicht festgelegte Kriterien, sofern fair angewandt.

Als Praxis-Tipp sollten Bewerber im öffentlichen Dienst daher ihr Profil möglichst breit aufstellen: Unterschiedliche Verwendungen, langjährige Erfahrung und ähnliche leistungsbezogene Aspekte können im Zweifel den Ausschlag geben, wenn es auf Hilfskriterien ankommt. Gleichzeitig sollten sie wissen, dass Positive Maßnahmen wie Frauenförderung erst ganz am Ende der Entscheidungskette greifen – nämlich nur, wenn auch nach Einbezug aller Leistungsmerkmale völliger Gleichstand herrscht. Der Beschluss des VGH Kassel schafft insoweit Rechtssicherheit: Er verdeutlicht die zulässige Vorgehensweise bei Auswahlentscheidungen und gibt sowohl Dienstherren als auch Bewerbern Leitlinien an die Hand, wie ein faires und rechtmäßiges Beförderungsverfahren abzulaufen hat.