Vorläufig müssen lebenserhaltende Maßnahmen fortgesetzt werden

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen hat mit Beschluss vom 12.04.2024 zum Aktenzeichen 44/24.VB-2 entschieden, dass das Abstellen lebenserhaltender Maßnahmen für eine Frau vorläufig zu unterlassen, bis rechtskräftig über den Antrag der Antragstellerin vom 12. März 2024 auf Überprüfung der Entscheidung des Betreuers entschieden ist.

Die Antragstellerin begehrt im Kern die Weiterbehandlung ihrer Mutter und sucht deshalb die für heute, den 12. April 2024, 10 Uhr, anstehende Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen für sie zu unterbinden. Zu diesem Zweck hat sie sich bereits am 12. März 2024 durch Vorsprache an das Amtsgericht Recklinghausen – Betreuungsgericht – gewandt und um betreuungsgerichtliche Kontrolle der sich für die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen aussprechenden Entscheidung des gerichtlich vorläufigen bestellten Betreuers ersucht. Bei sachgerechter und rechtsschutzfreundlicher Auslegung, die dem Begehren der Antragstellerin nach Möglichkeit kein Verständnis unterlegt, das zur Unzulässigkeit des Rechtsbehelfs führt (vgl. VerfGH NRW, Beschluss vom 27. April 2021 – VerfGH 31/21.VB-1, juris, Rn. 15), ist deshalb davon auszugehen, dass sie sich gegen das darauf ergangene Schreiben des Amtsgerichts vom 12. März 2024 wendet, das ein gerichtliches Einschreiten gegen die seinerzeit bereits angekündigte Zustimmung des vorläufig bestellten Betreuers ablehnt. Dass sich die Antragstellerin diesem Schreiben in ihrer Antragsschrift nur untergeordnet zuwendet und sich auch nicht näher damit befasst, ist hier ausnahmsweise unschädlich. In Fällen besonderer Eilbedürftigkeit – wie hier – sind die Anforderungen an die Begründung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung reduziert (vgl. VerfGH NRW, Beschluss vom 18. Februar 2022 – VerfGH 20/22.VB-2, NWVBl. 2022, 368 = juris, Rn. 54). Soweit die Antragstellerin auch die Bestellung eines vorläufigen Betreuers durch den Beschluss des Amtsgerichts Recklinghausen – Betreuungsgericht – vom 4. März 2024 – 65 XVII 15/24 W – beanstandet, wäre eine in der Hauptsache zu erhebende Verfassungsbeschwerde bereits weitgehend unzulässig, weil die Anwendung der bundesrechtlichen (§§ 1814 ff. BGB) materiell-rechtlichen Voraussetzungen dieser Betreuerbestellung gemäß § 53 Abs. 2 VerfGHG einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen nicht zugänglich ist.

Die Verfassungsbeschwerde wäre offensichtlich begründet, weil das Schreiben des Amtsgerichts Recklinghausen vom 12. März 2024 – 65 XVII 15/24 W – den verfassungsrechtlichen Justizgewähranspruch aus Art. 4 Abs. 1 LV i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG der Antragstellerin verletzt. Nach § 1829 Abs. 1 Satz 1 BGB bedarf die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist (vgl. § 1829 Abs. 1 Satz 2 BGB). Nach § 1829 Abs. 2 BGB bedarf die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die Maßnahme medizinisch angezeigt ist und die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund des Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Gemäß § 1829 Abs. 4 BGB ist eine Genehmigung nach § 1829 Abs. 1 und 2 BGB nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1827 BGB festgestellten Willen des Betreuten entspricht. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird dem Schutz des Patienten vor einem etwaigen Missbrauch der Betreuerbefugnisse dabei zum einen dadurch Rechnung getragen, dass eine wechselseitige Kontrolle zwischen Arzt und Betreuer bei der Entscheidungsfindung hinsichtlich des Patientenwillens stattfindet. Zum anderen können insbesondere der Ehegatte, Lebenspartner, Verwandte oder Vertrauenspersonen des Betreuten, aufgrund des Amtsermittlungsprinzips im Betreuungsverfahren jederzeit eine betreuungsgerichtliche Kontrolle der Betreuerentscheidung in Gang setzen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. September 2014 – XII ZB 202/13, BGHZ 202, 226 = juris, Rn. 18; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 2. November 2021 – 1 BvR 1575/18, NJW 2021, 3590 = juris, Rn. 35). Der verfassungsrechtliche Justizgewähranspruch verlangt mithin eine förmliche, rechtsmittelfähige Entscheidung, die auch ein Negativattest zum Gegenstand haben kann, wenn sich eine Genehmigungspflicht gemäß § 1829 Abs. 4 BGB nicht ergibt (vgl. BGH, Beschluss vom 17. September 2014 – XII ZB 202/13, BGHZ 202, 226 = juris, Rn. 20). Diesen Anforderungen wird das Schreiben des Amtsgerichts vom 12. März 2024 nicht gerecht.

Vor diesem Hintergrund ist zur Verhinderung eines schweren Nachteils für das gemeine Wohl der Erlass der einstweiligen Anordnung geboten. Dabei hat der Verfassungsgerichtshof auch die schwere gesundheitliche Situation der Mutter und ihren in einer Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachten Willen berücksichtigt, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr bei ihr angewendet werden sollen, wenn alle diagnostischen Möglichkeiten aller Fachrichtungen vollständig ausgeschöpft sind. Dass diese Situation unzweifelhaft eingetreten ist und deshalb die Be[1]lange der Antragstellerin, die das Vorliegen dieser Voraussetzungen gerade in Abrede stellt und weitere Ansätze für eine dem Patientenwillen Rechnung tragende Behandlungen geltend macht, dahinter schon im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zurücktreten müssten, lässt sich nach Aktenlage nicht mit der gebotenen Sicherheit feststellen. Dabei stellt der Verfassungsgerichtshof in Rechnung, dass eine der Situation angemessene zeitnahe Entscheidung der Fachgerichte zu erwarten ist. Ein Aufschub über die rechtskräftige fachgerichtliche Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin vom 12. März 2024 hinaus bis zur endgültigen verfassungsrechtlichen Klärung – wie von der Antragstellerin begehrt – ist derzeit nicht geboten.