Hintergrund: Ausgeschieden wegen Überlastung
Ein ehemaliger Verwaltungsrichter in Bremen hatte seinen Richterposten aufgegeben, nachdem er sich durch die Bearbeitung zahlreicher Asylverfahren psychisch überlastet fühlte. Er wurde zum 01.04.2019 auf eigenen Wunsch aus dem Richterdienst entlassen und wechselte in eine Verwaltungsstelle (Besoldungsgruppe A 15). Als Grund für seinen Weggang nannte er damals explizit die starke emotionale und psychische Belastung durch die Asylfälle, verstärkt durch eine persönliche Krise (Krankheit und Tod seiner Mutter). Diese Asylverfahren machten einen Großteil seiner Tätigkeit am Verwaltungsgericht aus und hatten ihn „erheblich belastet“.
Im April 2025 bewarb sich der mittlerweile wieder genesene Jurist erneut um eine Stelle als Richter auf Probe in der bremischen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Da in der Zwischenzeit mehrere Bewerberinnen – teils Berufsanfängerinnen, teils erfahrene Juristen – um die ausgeschriebenen Richterstellen konkurrierten, wurde ein Auswahlverfahren mit strukturierten Vorstellungsgesprächen durchgeführt. Der ehemalige Richter erhielt trotz guter fachlicher Beurteilungen nicht den Zuschlag. Die Justizverwaltung entschied sich für andere Bewerber, was vor allem mit Zweifeln an seiner persönlichen Eignung begründet wurde – konkret an seiner psychischen Belastbarkeit für das anspruchsvolle Amt.
Der abgelehnte Bewerber focht diese Entscheidung gerichtlich an. In einem sogenannten Konkurrentenstreit beantragte er einstweiligen Rechtsschutz, um die Besetzung der Stellen mit den ausgewählten Konkurrenten zu stoppen, bis über seine Klage entschieden ist. Nachdem das Verwaltungsgericht Bremen seinen Eilantrag abgelehnt hatte, musste das Oberverwaltungsgericht Bremen (OVG) über die Beschwerde des Richters entscheiden. Mit Beschluss vom 10.11.2025 (Az. 2 B 219/25) wies das OVG Bremen die Beschwerde zurück – der frühere Richter darf vorläufig nicht wieder eingestellt werden. Dieses Verfahren und die Entscheidung des OVG Bremen liefern wichtige Hinweise darauf, unter welchen Voraussetzungen eine Wiedereinstellung nach psychischer Dienstunfähigkeit möglich ist und welche Punkte im Auswahlverfahren sorgsam geklärt werden müssen.
Positive Gesundheitsprognose als Voraussetzung der Eignung
Das OVG Bremen betont in seinem Beschluss, dass die gesundheitliche Eignung – insbesondere die psychische Belastbarkeit – ein zentraler Bestandteil der persönlichen Eignung im Sinne des Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz (GG) ist. Dieser Verfassungsartikel schreibt die Bestenauslese nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vor. Eine Bewerberin oder ein Bewerber ist nur geeignet, wenn sie oder er dem angestrebten Amt in körperlicher, psychischer und charakterlicher Hinsicht gewachsen ist. Gerade für ein Richteramt bedeutet das, dass die Person den typischen Beanspruchungen des Amts standhalten kann – dauerhaft und zuverlässig.
Im vorliegenden Fall hatte der Antragsteller das Richteramt in der Vergangenheit bereits inne und unter anderem aus psychischen Gründen aufgegeben. Das OVG stellt klar, dass ein solcher Umstand im Auswahlverfahren berücksichtigt werden darf und muss. Wer ein Amt früher aus Überlastung niedergelegt hat, kann nur dann wiedergewählt werden, wenn plausibel eine positive gesundheitliche Prognose gestellt werden kann, dass die früheren Probleme überwunden sind. Fehlt es daran, darf die Justizverwaltung von einer fortbestehenden bzw. wieder aufkommenden Überforderung ausgehen. Im Wortlaut führte das Gericht aus:
„Hat eine Bewerberin oder ein Bewerber – wie hier der Antragsteller – das Amt, das sie oder er nun anstrebt, bereits früher einmal innegehabt und es unter anderem deshalb aufgegeben, weil sie oder er es als psychisch und emotional zu belastend empfand, … ist die Prognose nachvollziehbar, dass die Bewerberin oder der Bewerber diesem Amt auch in Zukunft psychisch und emotional nicht gewachsen sein wird.“
Konkret bezogen auf die Tätigkeit am Verwaltungsgericht Bremen bedeutet dies: Asylrechtsstreitigkeiten sind ein prägender und unvermeidbarer Teil der Arbeit eines Verwaltungsrichters – aktuell und absehbar auch in Zukunft. Wenn ein Bewerber erkennen lässt, dass er der Bearbeitung solcher Verfahren voraussichtlich nicht gewachsen ist, darf der Dienstherr ihn als für das Richteramt ungeeignet einstufen. Genau das war hier der Fall: Der ehemalige Richter hatte selbst geschildert, dass ihm die Flut an Asylfällen vor 2019 über den Kopf wuchs. In seinem erneuten Vorstellungsgespräch betonte er zwar, mittlerweile psychisch wieder stabil zu sein. Er führte seine frühere Kündigung nun vor allem auf Karrieregründe und eine gewünschte „Horizonterweiterung“ zurück. Ein „fluchtartiges“ Verlassen der Justiz habe er bestritten. Allerdings konnte er nach Ansicht des Auswahlgremiums nicht überzeugend darlegen, wodurch sich seine Belastbarkeit wesentlich verbessert hat. Weder habe er eine Therapie oder andere aktive Aufarbeitung der Überlastung durchlaufen, noch konkrete Strategien aufgezeigt, wie er zukünftigen emotionalen Belastungen begegnen will.
Das OVG bewertete die Einschätzung der Justizverwaltung als nachvollziehbar und rechtlich zulässig: Die Verwaltung durfte annehmen, dass der Bewerber sich mit den Gründen seiner früheren Überforderung noch nicht hinreichend auseinandergesetzt hat. Diese Wertung verstößt nach Gerichtsmeinung weder gegen allgemeingültige Maßstäbe noch ist sie sachfremd. Insbesondere liege darin keine unzulässige Diskriminierung wegen einer früheren Erkrankung, sondern eine objektive Eignungsbeurteilung im konkreten Einzelfall. Zwar mag – so das Gericht – eine andere Beurteilung denkbar sein; doch im Rahmen des behördlichen Auswahlermessens ist die getroffene Prognose vertretbar und deshalb hinzunehmen.
Für die Praxis bedeutet das: Eine Wiedereinstellung nach psychischer Dienstunfähigkeit erfordert belastbare Hinweise auf eine dauerhafte Genesung. Ehemalige Richter oder Beamte, die aus gesundheitlichen Gründen ausschieden, müssen im Bewerbungsverfahren darlegen, warum sie heute den Anforderungen wieder gewachsen sind. Erfolgt dies nur vage oder widersprüchlich, darf die Verwaltung zum Schutz der Amtsauflagen skeptisch sein. Im Zweifel ist es aus Sicht des Dienstherrn zulässig – und im Sinne des Leistungsprinzips geboten – einen anderen, uneingeschränkt belastbaren Bewerber vorzuziehen.
Aufklärung strittiger Punkte im Auswahlverfahren
Der Beschluss des OVG Bremen unterstreicht daneben, wie wichtig eine sorgfältige Tatsachenermittlung im Auswahlverfahren ist, vor allem wenn es um streitige Aussagen im Vorstellungsgespräch geht. Im gerichtlichen Konkurrentenstreit übernimmt bereits das Eilverfahren weitgehend die Funktion des Hauptsacheverfahrens. Das bedeutet, dass das Gericht im einstweiligen Rechtsschutz die Sachverhaltsaufklärung nicht einfach der späteren Klage überlassen darf, sondern schon im Eilverfahren alle entscheidungserheblichen Unklarheiten klären muss.
Im vorliegenden Fall waren zwei Punkte umstritten: Erstens gab es einen formalen Fehler in den Unterlagen – im Protokoll war die Note des Klägers im ersten Staatsexamen zunächst falsch (zu schlecht) vermerkt. Zweitens divergierten die Darstellungen darüber, was der Bewerber im Vorstellungsgespräch über die Gründe seines früheren Ausscheidens gesagt hatte. Der Antragsteller behauptete, er habe keinen „fluchtartigen“ Weggang eingeräumt und die Asylbelastung nicht als alleinigen Grund dargestellt. Die Auswahlkommission – besetzt u.a. mit dem OVG-Präsidenten als Vorsitzendem – hatte jedoch den Eindruck gewonnen, der Bewerber habe sehr wohl die Überlastung durch Asylfälle als wichtigen Faktor für seinen Weggang genannt und lediglich relativiert, es sei nicht der einzig ausschlaggebende Grund gewesen.
Um diese Differenzen aufzuklären, hat das OVG im Beschwerdeverfahren Beweiserhebungen durchgeführt: Es wurden dienstliche Erklärungen der anwesenden Ausschussmitglieder eingeholt und eine eidesstattliche Versicherung bzw. Stellungnahme des Bewerbers angefordert. Damit konnte das Gericht rekonstruieren, was im Gespräch tatsächlich gesagt und verstanden wurde. Ergebnis: Die Kommission hatte den Sachverhalt im Wesentlichen korrekt erfasst. Insbesondere stand zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Bewerber die richtige Examensnote bekannt war und die falsche Notiz noch vor der Entscheidung berichtigt wurde. Auch hinsichtlich der Gesprächsinhalte vertraute der Senat den übereinstimmenden Schilderungen des Ausschussvorsitzenden und eines weiteren Mitglieds, wonach der Bewerber seine damaligen Schwierigkeiten mit den Asylverfahren erwähnt hatte (Stichworte: „sehr belastet“/„erheblich belastet“). Demgegenüber wertete das Gericht die nachträgliche Relativierung des Bewerbers – er habe den Dienst nur aus Karrieregründen gewechselt – als wenig überzeugend und teils widersprüchlich.
Durch diese umfassende Aufklärung stellte das OVG sicher, dass kein fehlerhafter oder unvollständiger Sachverhalt der Entscheidung zugrunde lag. Es hält ausdrücklich fest, dass die Justizverwaltung nicht von falschen Tatsachen zu Lasten des Bewerbers ausgegangen ist. Damit sind Angriffe des Antragstellers ins Leere gegangen, die Behörde habe möglicherweise unzutreffende Annahmen (etwa über seine Motivation oder seine Examensleistung) getroffen. Tipp: Für zukünftige Verfahren bedeutet dies, dass Dokumentation und Transparenz im Auswahlgespräch entscheidend sind. Streitpunkte lassen sich vermeiden, wenn etwa wichtige Anmerkungen (wie Korrekturen von Noten oder Klarstellungen des Bewerbers) schriftlich festgehalten und allen Beteiligten bekannt gemacht werden. Sollte es dennoch zu Unstimmigkeiten kommen, muss spätestens im Gerichtsverfahren aktiv aufgeklärt werden – z.B. durch Zeugen (Ausschussmitglieder) oder eidesstattliche Versicherungen.
Praktische Hinweise für Justizverwaltungen und Bewerber
Die Entscheidung des OVG Bremen hat Signalwirkung für den Umgang mit Bewerbern, die nach einer gesundheitlichen Krise in den öffentlichen Dienst zurückkehren möchten. Einige Lehren lassen sich daraus für die Praxis ziehen:
- Justizverwaltungen sollten bei Bewerbern mit früherer Dienstunfähigkeit oder Überlastung frühzeitig eine Gesundheitsprüfung veranlassen. Es kann sinnvoll sein, ein amtsärztliches oder psychologisches Gutachten einzuholen, um eine positive Gesundheitsprognose abzusichern. Im Auswahlgespräch sollten kritische Punkte offen angesprochen werden – etwa: “Wie haben Sie die damaligen Belastungen verarbeitet?”. Die Antworten sind sorgfältig zu protokollieren. So kann die Auswahlkommission ihre Entscheidung später schlüssig begründen und gegebenenfalls vor Gericht verteidigen. Wichtig ist, dass die fachliche Qualifikation und die persönliche Eignung (Belastbarkeit, Motivation) getrennt bewertet und transparent abgewogen werden. Falls Unterlagen Fehler (z.B. falsche Noten) enthalten, müssen diese unverzüglich berichtigt und dokumentiert werden.
- Bewerber mit vergleichbarer Vorgeschichte sollten sich gründlich auf Fragen zu ihrer Belastbarkeit vorbereiten. Es empfiehlt sich, offen über frühere Schwierigkeiten zu sprechen, ohne diese schönzureden – aber zugleich überzeugend darzulegen, was sich seitdem geändert hat. Konkrete Nachweise können helfen: etwa Teilnahme an Supervision oder Therapie, erfolgreiche Bewältigung hoher Arbeitsbelastung in einer anderen Tätigkeit, oder ärztliche Bescheinigungen zur aktuellen psychischen Stabilität. Wichtig ist ein konsistentes Auftreten: Widersprüche (z.B. zunächst Überlastung eingestehen, später aber kleinreden) untergraben die Glaubwürdigkeit. Bewerber sollten zudem von sich aus Nachfragen anbieten, wenn heikle Punkte im Gespräch möglicherweise missverstanden wurden – so lässt sich noch im Verfahren Klarheit schaffen, statt erst vor Gericht.
- Rechtliche Vertreter von Betroffenen sollten in Konkurrentenstreitigkeiten frühzeitig auf umfassende Sachverhaltsaufklärung drängen. Alle relevanten Tatsachen und Äußerungen sind zu sammeln und gegenüber der Behörde klarzustellen – notfalls mittels schriftlicher Stellungnahmen oder eidesstattlicher Versicherungen. Gerade im Eilverfahren gilt es, Glaubhaftmachung zu betreiben: Etwaige positive Entwicklungen der Gesundheit müssen belegt werden, damit das Gericht eine realistische Chance sieht, dass der Bewerber im Hauptsacheverfahren obsiegen könnte. Außerdem sollte geprüft werden, ob die Verwaltung wirklich alle Bewerber gleich behandelt hat. Im vorliegenden Fall betonte das OVG, dass strukturierte Interviews bei allen Kandidaten durchgeführt wurden und die Entscheidung nicht allein auf den früheren Ausfall des Antragstellers gestützt war, sondern auf einen umfassenden Eignungsvergleich (fachlich und persönlich). Anwälte sollten darauf achten, dass keine unzulässigen Erwägungen (etwa sachfremde oder diskriminierende Gründe) in die Auswahlentscheidung eingeflossen sind – solche wären angreifbar. Hier jedoch hatte die Behörde allgemeingültige Maßstäbe beachtet: die Belastbarkeit als Teil der Eignung ist ein legitimer Auswahlfaktor.
Der Beschluss des OVG Bremen vom 10.11.2025 schafft Klarheit, dass ohne positive gesundheitliche Prognose keine Rückkehr in die Richterrobe möglich ist. Die persönliche Eignung umfasst ausdrücklich die psychische Widerstandskraft für die mit dem Amt verbundenen Anforderungen. Justizverwaltungen sind angehalten, bei Zweifeln genau hinzusehen und Fakten sauber zu ermitteln. Bewerber mit Vergangenheit sollten offenlegen, wie sie ihre Lessons Learned gezogen haben und nun gestärkt ins Amt zurückkehren wollen. Gelingt dieser Nachweis nicht, steht dem Dienstherrn frei, aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Justiz den Vorzug denjenigen zu geben, die von vornherein uneingeschränkt belastbar erscheinen. Die Entscheidung ist damit ein wichtiger Praxisleitfaden für den Balanceakt zwischen zweiter Chance und dem Leistungsprinzip im öffentlichen Dienst.