Willkürliche Entscheidungsbegründung über Anhörungsrüge ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. September 2021 zum Aktenzeichen 1 BvR 1029/20 entschieden, dass eine Entscheidung des Sozialgerichts Köln über eine Anhörungsrüge verfassungswidrig ist.

Das Sozialgericht wies eine Anhörungsrüge mit den Worten zurück:

„Alleine der Umstand, dass das Gericht zu einer anderen als der vom Antragsteller vertretenen Auffassung gelangt ist, stellt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar […]. Ob die Ehefrau des Antragstellers wirksam Widerspruch erhoben hat, kann dahinstehen, da die Entscheidung darauf nicht alleine gestützt wurde. Auch falls Widerspruch erhoben worden wäre, wäre der Antrag immer noch abzulehnen gewesen.“

Der dem angegriffenen Beschluss vorausgegangene, mit der Verfassungsbeschwerde nicht eigens angegriffene Beschluss des Sozialgerichts vom 9. März 2020 verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (aa). Der angegriffene Beschluss vom 19. März 2020, durch den die Anhörungsrüge zurückgewiesen wurde, verletzt den Beschwerdeführer zu 1) in seinem Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung als Willkürverbot.

Dem angegriffenen Beschluss über die Anhörungsrüge ging ein Gehörsverstoß im Eilverfahren voraus.

Das Sozialgericht hat mit seinem Beschluss vom 9. März 2020 den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Es hat dem Beschwerdeführer zu 1) keine Möglichkeit zur Stellungnahme zum Schriftsatz des Jobcenters vom 2. März 2020 eingeräumt, obwohl es den hierin erstmals geäußerten Vortrag, die Beschwerdeführerin zu 2) habe gegen den Bescheid vom 25. November 2019 keinen Rechtsbehelf erhoben, der Entscheidung zugrunde gelegt hat. Die vom Beschwerdeführer zu 1) im anschließenden Anhörungsrügeverfahren bestrittenen Annahmen, die Beschwerdeführerin zu 2) habe keinen Widerspruch eingelegt und der ihr gegenüber ergangene Bescheid vom 25. November 2019 sei bestandskräftig, bilden die tragende Begründung des Gerichtsbeschlusses vom 9. März 2020. Die vom Gericht angedeuteten Alternativerwägungen (oben I 1 d) sind schlechterdings nicht nachvollziehbar und führen das Gericht ohnehin allein zu der hier Art. 103 Abs. 1 GG verletzenden Annahme zurück, der Bescheid vom 25. November 2019 sei gegenüber der Beschwerdeführerin zu 2) bestandskräftig geworden.

Dieser Gehörsverstoß wurde im Rahmen des Anhörungsrügeverfahrens nicht geheilt. Wenn das Gericht einem Gehörsverstoß durch bloße Rechtsausführungen im Anhörungsrügebeschluss zum Vorbringen des Betroffenen in der Anhörungsrüge abhelfen könnte, wäre es zwar reine Förmelei, von Verfassungs wegen die Fortführung des Verfahrens zu verlangen, obwohl sich das Gericht schon unter Berücksichtigung des übergangenen Vortrags eine abschließende Meinung gebildet hat und klar ist, dass eine für den Beteiligten günstigere Lösung ausgeschlossen ist, also die Entscheidung nicht auf der Gehörsverletzung beruht. Der angegriffene Beschluss vom 19. März 2020 enthält jedoch keine derartigen Ausführungen, die zu einer Heilung hätten führen können.

Der angegriffene Beschluss vom 19. März 2020 verletzt den Beschwerdeführer zu 1) in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in dessen Ausprägung als objektives Willkürverbot, weil die Anhörungsrüge aus schlechterdings nicht nachvollziehbaren Gründen zurückgewiesen wurde.

Der Feststellung, dass die angegriffene Entscheidung gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer zu 1) geltend macht, die angegriffene Entscheidung verstoße gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

Ein Beschluss über eine Anhörungsrüge verstößt allerdings nicht schon deshalb selbst gegen Art. 103 Abs. 1 GG, weil er zu Unrecht – sei es auch willkürlich – einem vorausgehenden Gehörsverstoß nicht abhilft.

Der im Verfassungsbeschwerdeverfahren anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer zu 1) hat jedoch in der Sache auch dargelegt, dass die angegriffene Entscheidung willkürlich sei. Er führt aus, die Auffassung des Sozialgerichts, dass der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz immer noch abzulehnen gewesen wäre, wenn Widerspruch erhoben worden wäre, halte er grundsätzlich für falsch, weil dies § 86a SGG und seine Wirkung völlig negiere und ignoriere. Unabhängig davon ist das Bundesverfassungsgericht ohnehin nicht gehindert, weitere als die vom Beschwerdeführer ausdrücklich benannten Grundrechte in die Prüfung einzubeziehen, soweit sich die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Rechtsverletzung in Blick auf dieselbe Beschwer auch oder vorrangig im Blick auf andere Grundrechte ergeben kann. Innerhalb des durch die geltend gemachte Beschwer bestimmten Streitgegenstandes prüft das Bundesverfassungsgericht alle insoweit in Betracht zu ziehenden Grundrechte.

Die angegriffene Entscheidung verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Entscheidung des Gerichts, der Beschluss vom 9. März 2020 verletzte nicht den Anspruch des Beschwerdeführers zu 1) auf rechtliches Gehör, entbehrt jedes nachvollziehbaren sachlichen Grundes. Aus den knappen Ausführungen des Anhörungsrügebeschlusses wird nicht verständlich, warum der Antrag des Beschwerdeführers zu 1) auch dann abzulehnen gewesen wäre, wenn er hätte vortragen können, dass die Beschwerdeführerin zu 2) entgegen der Annahme des Gerichts doch Widerspruch erhoben hatte und warum dahinstehen kann, ob die Beschwerdeführerin zu 2) wirksam Widerspruch erhoben habe. Die hier formelhaft getroffene Feststellung des Gerichts, alleine der Umstand, dass das Gericht zu einer anderen als der vom Antragsteller vertretenen Auffassung gelangt sei, stelle keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, führt nicht weiter, weil nicht zu erkennen ist, worauf sich dies hier sinnvoll beziehen könnte.

Dass der Beschwerdeführer zu 1) seinen Antrag im Ausgangsverfahren in einer Weise formuliert hat, die so nicht ohne Weiteres zum Erfolg führen könnte, steht der Aufhebung der angegriffenen Entscheidung nicht entgegen.

Zwar ist – was vom Sozialgericht allerdings in keinem seiner beiden Beschlüsse angesprochen wurde – denkbar, dass der Antrag des Beschwerdeführers zu 1) in seiner ursprünglichen Formulierung erfolglos geblieben wäre, weil er einen hierfür notwendigen Anordnungsgrund nicht hätte glaubhaft machen können. Ein Anordnungsgrund für die Verpflichtung einer Behörde zur Gewährung existenzsichernder Leistungen setzt die Glaubhaftmachung voraus, dass dies zur Abwehr einer die Existenz bedrohenden Notlage erforderlich ist. Eine solche Eilbedürftigkeit liegt in der Regel nicht vor, wenn die Beteiligten – wie hier – nur um geringe Abzüge innerhalb eines überschaubaren Zeitraums streiten. Hier betrug die Minderung des maßgebenden Regelbedarfs der Beschwerdeführerin zu 2) infolge der Aufrechnung für die Monate Januar und Februar 2020 lediglich jeweils 10 % und für den Monat März 2020 2,5 %, was den Gesamtbetrag der Leistungen für die Bedarfsgemeinschaft von 1.506 Euro um etwa 2,5 % beziehungsweise um etwa 0,6 % verringerte.

Bei Fortführung des Verfahrens hätte der Beschwerdeführer zu 1) seinen Eilantrag aber – wie er in der Verfassungsbeschwerde vorträgt – dahin abändern können, das Sozialgericht möge die von der Behörde missachtete aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Beschwerdeführerin zu 2) auf der Grundlage des § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG analog deklaratorisch feststellen. Seiner Verpflichtung folgend, auf sachdienliche Anträge hinzuwirken, hätte das Sozialgericht eine solche Antragsumstellung ohnehin selbst angeregt oder sie im Wege der Umdeutung vorgenommen.