Ablehnung des Vollstreckungsschutzes ohne Ermittlungen bei Zwangsräumung verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 17. Mai 2022 zum Aktenzeichen 2 BvR 661/22 festgestellt, dass es verfassungsrechtlich bedenklich ist, wenn Fachgerichte ohne weitere Ermittlungen keinen Vollstreckungsschutz gewähren.

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen.

Die Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Vollstreckungsschutzverfahren ist nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids zu berücksichtigen, sondern auch, wenn die Fortsetzung des Zwangsvollstreckungsverfahrens aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners begründet oder wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im Sinne von § 765a ZPO darstellt. Einzubeziehen sind nicht nur die Gefahren für Leben und Gesundheit des Schuldners während des Räumungsvorgangs, sondern auch die Lebens- und Gesundheitsgefahren im Anschluss an die Zwangsräumung.

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsmaßstäbe spricht einiges dafür, dass die Beschwerdeführer unter Vorlage der nervenärztlichen Bescheinigung über das Bestehen erheblicher Veränderungsbelastungen und der Möglichkeit weiterer gefährdender Auswirkungen auf die gesundheitliche Situation im Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Suizidgefahr sowie für eine erhebliche Verschlechterung der chronisch verlaufenden seelischen Erkrankung der Beschwerdeführerin vorgetragen haben.

Dass die Gerichte gleichwohl ohne weitere Ermittlungen davon ausgegangen sind, diese Gefahren würden sich nicht realisieren, gibt zu verfassungsrechtlichen Bedenken Anlass. Macht der Vollstreckungsschuldner substantiiert ihm drohende Gesundheitsgefahren für den Fall einer Zwangsräumung geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen – beim Fehlen eigener Sachkunde – zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe – vorliegend etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens oder durch Vernehmung des behandelnden Facharztes – ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann.

Darüber hinaus erscheint es – entgegen der Auffassung der Fachgerichte – zweifelhaft, ob eine mögliche Gefährdung der Beschwerdeführerin durch ihre Angehörigen oder die fachliche Hilfe Dritter in einer dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG genügenden Weise ausgeschlossen werden konnte.

Soweit beide Gerichte auf die Hilfe durch den sozialpsychiatrischen Dienst hingewiesen haben und das Amtsgericht zusätzlich nicht nur auf unterstützende Maßnahmen von Angehörigen der Beschwerdeführerin, sondern auch auf fachliche Hilfe gegebenenfalls durch einen stationären Aufenthalt in einer Klinik sowie auf die Möglichkeit ärztlicher Hilfe im Nachgang zur Zwangsräumung Bezug genommen hat, spricht einiges dafür, dass die Gerichte nicht hinreichend berücksichtigt haben, dass das Vollstreckungsgericht die Entscheidung über die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen anlässlich der Zwangsräumung nicht dem Verantwortungsbereich Dritter überlassen darf. Vielmehr hat das Vollstreckungsgericht selbst zu prüfen, wie einer Gefahr für Leib und Leben gegebenenfalls zu begegnen ist und in eigener Zuständigkeit sicherzustellen, dass die zuständigen öffentlichen Stellen rechtzeitig tätig werden. Ob das Amtsgericht dieser Verpflichtung genügt hat, ist zweifelhaft. Zwar hat die im sozialpsychiatrischen Dienst zuständige Sozialpädagogin nach den Ausführungen des Amtsgerichts zugesichert, mit der Beschwerdeführerin Kontakt aufzunehmen und sich eine Einschätzung der Lage zu machen und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen zu treffen. Damit hat sich aber das Amtsgericht gerade kein eigenes Bild von Art und Umfang einer möglichen Gefahr für Leib oder Leben der Beschwerdeführerin gemacht, sondern die Entscheidung über die Notwendigkeit und die Art von Schutzmaßnahmen der Mitarbeiterin des sozialpsychiatrischen Dienstes überlassen.

Hinsichtlich der von den Fachgerichten vorausgesetzten Hilfe durch die Angehörigen kommt hinzu, dass eine entsprechende rechtliche Verpflichtung der Angehörigen eines Schuldners nicht besteht. Ob ein Angehöriger der Beschwerdeführerin hierzu im Nachgang zu einem Wohnungswechsel, der mit der Auflösung der bisherigen Haushaltsgemeinschaft einhergehen kann, überhaupt in der Lage und darüber hinaus freiwillig bereit wäre, haben die Gerichte nicht – wie jedoch erforderlich – aufgeklärt.

Nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung ist bei Zwangsräumungen mit der Einweisung des Gläubigers in den Besitz der Räume durch Übergabe der Schlüssel diese Vollstreckungsmaßnahme beendet und kann demgemäß vom Gerichtsvollzieher nicht mehr aufgehoben werden. Vielmehr müsste eine bereits endgültig vollzogene Zwangsvollstreckungsmaßnahme rückgängig gemacht werden. Zur Durchsetzung einer erneuten Einweisung des Schuldners in den Besitz der Räume bedarf es einer Vollstreckungsmaßnahme gemäß § 885 Abs. 1 ZPO gegen den Gläubiger. Diese setzt nach § 750 Abs. 1 ZPO einen entsprechenden Titel voraus, der nur aufgrund einer Klage im Erkenntnisverfahren erlangt werden kann. Vor dem Hintergrund dieser fachgerichtlichen Rechtsprechung fehlen in der Verfassungsbeschwerde Ausführungen dazu, wie das Ziel, die bereits vollzogene Zwangsräumung rückgängig zu machen, im Rahmen eines Vollstreckungsschutzverfahrens erreicht werden kann. Denn der Antrag nach § 765a ZPO wird außerhalb des Erkenntnisverfahrens gestellt und ist lediglich auf die Einstellung der Zwangsvollstreckung und damit gerade nicht auf die Erlangung eines Titels gegenüber dem Gläubiger gerichtet.