Auslieferung nach Russland verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 03. März 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 1400/20 entschieden, dass die Abschiebung eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Volkszugehörigkeit verfassungswidrig ist.

Das Verwaltungsgericht hat einen Anordnungsanspruch unter Verweis auf das Nichtvorliegen der Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens in Bezug auf ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK gemäß § 51 Abs. 5 in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG verneint, ohne sich hinreichend mit den dem Beschwerdeführer im Falle einer Abschiebung in die Russische Föderation drohenden Gefahren befasst zu haben. Es hat ausschließlich Ausführungen dazu gemacht, dass und warum die Zusicherungen aus dem Auslieferungsverfahren weiterhin Geltung beanspruchten, ohne sich in einem nächsten Schritt – die Gültigkeit der Zusicherungen unterstellt – mit dem Inhalt und der Reichweite dieser Zusicherungen zu befassen.

Es ist bereits zweifelhaft, ob die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Zusicherungen aus dem Auslieferungsverfahren auch im Falle einer Abschiebung des Beschwerdeführers weiterhin Geltung beanspruchen, rechtlich vertretbar ist. Insbesondere die Zusicherungen, dass Beamte der Deutschen Botschaft berechtigt sein würden, den Beschwerdeführer zwecks Kontrolle der Einhaltung der Verfahrens- und Haftgewährleistungen jederzeit zu besuchen, dass deutsche Konsularbeamte bei den Gerichtsverhandlungen anwesend sein und das Gerichtsverfahren beobachten dürften und dass der Botschaft oder dem entsprechenden deutschen Generalkonsulat in Russland nach Abschluss des Verfahrens auf Anfrage eine Kopie der endgültigen prozessualen Entscheidung übermittelt werde, knüpfen ersichtlich an die Zuständigkeit des Auswärtigen Amtes für den Fall des Beschwerdeführers an. Diese ist nur im Falle der Auslieferung, nicht aber im Falle der Abschiebung des Beschwerdeführers gegeben.

Das Verwaltungsgericht hat sich jedenfalls mit der entscheidungserheblichen Frage, welche Situation den Beschwerdeführer im Fall einer Abschiebung in die Russische Föderation tatsächlich erwartet – konkret, welchen Inhalt die von den russischen Behörden erteilten Zusicherungen haben und ob sie belastbar sind –, nicht auseinandergesetzt. Es hat die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinne nach § 51 Abs. 5 in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG nicht hinreichend geprüft und dem Beschwerdeführer damit effektiven (Eil-) Rechtsschutz verwehrt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist das Ermessen nach § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG, das Verfahren auch dann wieder aufzunehmen, wenn und soweit die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht gegeben sind, dann auf Null reduziert, wenn der Ausländer durch die Abschiebung einer extremen, individuellen Gefahrensituation ausgesetzt werden würde, das Absehen von der Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist und ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung über das Abschiebungsverbot zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde.

Das Verwaltungsgericht hat nicht geprüft, ob diese Voraussetzungen im Fall des Beschwerdeführers vorliegen. Es begründet lediglich, warum es die im Auslieferungsverfahren von den russischen Behörden erteilten Zusicherungen nach wie vor für bindend hält. Es prüft jedoch nicht, ob die Zusicherungen – ihre Fortgeltung unterstellt – die Gefahr der Folter und der unmenschlichen Behandlung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation verlässlich ausschließen. Eine entsprechende Prüfung wäre zwingend erforderlich gewesen. Denn es spricht Überwiegendes dafür, dass die Gefahr der Folter und der unmenschlichen Behandlung des Beschwerdeführers im Falle einer Abschiebung durch die Zusicherungen nicht verlässlich ausgeschlossen wird.

Der Beschwerdeführer weist in der Verfassungsbeschwerde zu Recht darauf hin, dass die Zusicherungen aus dem Auslieferungsverfahren nicht sicherstellen, dass auch das zu erwartende Strafverfahren wegen Terrorismusverdachts außerhalb der Tschetschenischen Republik geführt werden wird. Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation hat im Rahmen einer Zusicherung lediglich mitgeteilt, dass das Ermittlungsdepartment des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation das Strafverfahren am 22. März 2018 aus der Ermittlungssektion der Abteilung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation für den Bezirk Atschchoi-Martan entfernt und der Hauptermittlungsverwaltung der Hauptverwaltung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation für die Region Krasnodar zwecks Organisierung der weiteren Ermittlungen übergeben habe und dass die Verbüßung einer Strafe durch den Beschwerdeführer außerhalb der Verwaltungsgrenzen des Föderationskreises Nordkaukasus stattfinden werde. Eine Zusicherung, dass auch das Strafverfahren außerhalb der Tschetschenischen Republik geführt werde, liegt nicht vor. Selbst das nach der Erhebung der Verfassungsbeschwerde dem Verwaltungsgericht Schwerin im Klageverfahren vorgelegte Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 17. August 2020, das den Wortlaut der Zusicherung der Russischen Föderation vom 15. Januar 2020 für die Abschiebung des Beschwerdeführers wörtlich wiedergibt, lässt nicht auf eine Zusicherung solchen Inhalts schließen.

Eine solche Zusicherung wird, wie der Beschwerdeführer in der Verfassungsbeschwerde ebenfalls deutlich macht, von den russischen Behörden in der Regel auch nicht erteilt. Nach einer Stellungnahme des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zur Strafverfolgung von Tschetschenen vom 26. Juli 2019 ist es den russischen Behörden aufgrund der Rechtslage in der Russischen Föderation nicht möglich, gegenüber der Bundesrepublik Deutschland wirksam zuzusichern, dass ein Strafverfahren außerhalb des Gebiets des Nordkaukasus stattfindet. Zwar haben die russischen Behörden in vergangenen Auslieferungsfällen den Standort des Ermittlungsverfahrens verlegt und zugesagt, darauf hinzuwirken, dass auch das Strafverfahren außerhalb des Nordkaukasus stattfinden werde. Nach der genannten Stellungnahme des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 26. Juli 2019 ist es in einigen Fällen jedoch dazu gekommen, dass Betroffene dennoch in der Tschetschenischen Republik in Untersuchungshaft genommen und ihre Strafverfahren im Gebiet Nordkaukasus durchgeführt wurden. Im Fall des Beschwerdeführers haben die russischen Behörden nicht einmal ausdrücklich zugesagt, darauf hinzuwirken, dass das Strafverfahren außerhalb der Tschetschenischen Republik stattfinden wird.

Dass der Beschwerdeführer, dem von den russischen Behörden eine terroristische Straftat im Ausland vorgeworfen wird, im Falle eines in der Tschetschenischen Republik geführten Strafverfahrens einem extrem hohen Risiko ausgesetzt wäre, Opfer von Folter zu werden, ergibt sich hinreichend aus dem von ihm in Bezug genommenen Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation. In diesem wird ausgeführt, dass die Bekämpfung von Extremisten in der Tschetschenischen Republik laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen Nichtregierungsorganisationen einhergehe mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert werde. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen sei unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch Nichtregierungsorganisationen seien nicht möglich; Regimeopfer müssten mit-samt ihren Familien aus Tschetschenien herausgebracht werden.

Der Beschwerdeführer hat sowohl im behördlichen als auch im gerichtlichen Verfahren ausdrücklich geltend gemacht, dass die Gefahr bestehe, dass sein Gerichtsverfahren im Falle seiner Abschiebung mangels anderweitiger Zusicherungen in der Tschetschenischen Republik durchgeführt werde und dass ihm dort Folter drohe.

Das Verwaltungsgericht hätte entsprechend prüfen müssen, ob die Zusicherungen – ihre Fortgeltung unterstellt – die Gefahr der Folter und der unmenschlichen Behandlung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation hinreichend verlässlich ausschließen. Es hätte sich insbesondere mit der Gefahr des dem Beschwerdeführer in der Tschetschenischen Republik drohenden Strafverfahrens auseinandersetzen müssen.

Hätte es dies getan, wäre es möglicherweise zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich des Wiederaufgreifensanspruchs des Beschwerdeführers gekommen und hätte das Bundesamt im Eilverfahren verpflichtet, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 1. Juni 2016 vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht vollzogen werden darf. Damit beruht die Entscheidung auch auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß.