Ausstellung einer Europäischen Ermittlungsanordnung durch deutsche Staatsanwaltschaft

08. Dezember 2020 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 08.12.2020 zum Aktenzeichen C-584/19 entschieden, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung im Gegensatz zum Europäischen Haftbefehl von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaates erlassen werden kann, die der Gefahr ausgesetzt ist, Einzelweisungen der Exekutive unterworfen zu werden.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 156/2020 vom 08.12.2020 ergibt sich:

Die Grundrechte der von der Europäischen Ermittlungsanordnung betroffenen Person seien sowohl im Stadium ihres Erlasses als auch im Stadium ihrer Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat hinreichend geschützt, so der EuGH.

Die Staatsanwaltschaft Hamburg eröffnete gegen A. und weitere unbekannte Personen ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs. Sie werden verdächtigt, im Juli 2018 unter Verwendung widerrechtlich erlangter Daten 13 Überweisungsaufträge gefälscht zu haben, wodurch vermutlich ungefähr 9.800 Euro auf ein bei einer österreichischen Bank geführtes Konto, das auf A. lautet, überwiesen werden konnten. Im Rahmen der Aufklärung dieser Sache erließ die Staatsanwaltschaft Hamburg im Mai 2019 eine Europäische Ermittlungsanordnung (im Einklang mit der RL 2014/41/EU – ABl. 2014, L 130, 1), die sie der Staatsanwaltschaft Wien übermittelte und mit der sie die Staatsanwaltschaft Wien um Übermittlung von Unterlagen zu dem betreffenden Konto in Form von Kopien für den betreffenden Zeitraum ersuchte. Nach der österreichischen Strafprozessordnung darf die österreichische Staatsanwaltschaft eine solche Ermittlungsmaßnahme aber nicht ohne eine vorherige gerichtliche Bewilligung anordnen. Daher beantragte die Staatsanwaltschaft Wien Ende Mai 2019 beim Landesgericht für Strafsachen Wien (Österreich) die Bewilligung dieser Ermittlungsmaßnahme.
Da das vorlegende Gericht u.a. festgestellt hat, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg nach deutschem Verfahrensrecht Weisungen des Justizsenators von Hamburg – auch in Einzelfällen – erhalten kann, hat es sich gefragt, ob diese Europäische Ermittlungsanordnung von den österreichischen Behörden vollstreckt werden muss. Seine Fragen betreffen konkret die Anwendbarkeit der jüngeren Rechtsprechung des EuGH zum Begriff „ausstellende Justizbehörde“ eines Europäischen Haftbefehls (EHB) i.S.d. Rahmenbeschlusses 2002/584 (ABl. 2002, L 190, 1; im Folgenden: Rahmenbeschluss über den EHB) im Kontext der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung (EuGH, Urt. v. 27.05.2019 – C-508/18, C-82/19 „OG und PI“ – Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau und EuGH, Urt. v. 27.05.2019 – C-509/18 „PF“ Generalstaatsanwalt von Litauen, der EuGH hat entschieden, dass unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ nicht die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaates fallen, die der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden).
Folglich hat das vorlegende Gericht beschlossen, den EuGH zu fragen, ob die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaates als für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung im Sinne dieser Richtlinie zuständige „Justizbehörde“ angesehen werden kann, auch wenn sie der Gefahr ausgesetzt ist, im Rahmen des Erlasses einer solchen Anordnung Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden.

Der EuGH hat entschieden, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaates erlassen werden kann, die der Gefahr ausgesetzt ist, Einzelweisungen der Exekutive unterworfen zu werden.

Nach Auffassung des EuGH erfassen die Begriffe „Justizbehörde“ und „Anordnungsbehörde‘“ im Sinne der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung den Staatsanwalt eines Mitgliedstaates oder ganz allgemein die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaates, und zwar auch wenn zwischen diesen und der Exekutive dieses Mitgliedstaates möglicherweise ein rechtliches Unterordnungsverhältnis bestehe, das sie der Gefahr aussetze, beim Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden.

Eine Europäische Ermittlungsanordnung könne nach dieser Richtlinie nur vollstreckt werden, wenn die Behörde, die sie erlassen habe, eine „Anordnungsbehörde“ i.S.v. Art. 2 Buchst. c der RL über die Europäische Ermittlungsanordnung sei, und dass, wenn eine solche Anordnung von einer anderen Anordnungsbehörde als einem Richter, einem Gericht, einem Ermittlungsrichter oder einem Staatsanwalt, der/das in dem betreffenden Fall zuständig sei, erlassen wurde, diese Anordnung von einer „Justizbehörde“ validiert werden müsse, bevor sie zu ihrer Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat übermittelt werde.

Nach dieser Erläuterung sei zunächst festzustellen, dass im Unterschied zu den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses über den EHB, der auf die „ausstellende Justizbehörde“ Bezug nehme, ohne die von diesem Begriff erfassten Behörden genauer zu bezeichnen, der Staatsanwalt in der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung ausdrücklich zu den Behörden zählt, die wie der Richter, das Gericht oder der Ermittlungsrichter als „Anordnungsbehörde“ verstanden werden (vgl. Art. 2 Buchst. c Ziff. i der RL über die Europäische Ermittlungsanordnung). Der Staatsanwalt in dieser Richtlinie zähle zu den „Justizbehörden“, die befugt seien, eine Europäische Ermittlungsanordnung vor ihrer Übermittlung an die Vollstreckungsbehörde zu validieren, wenn eine andere Anordnungsbehörde als ein Richter, ein Gericht, ein Ermittlungsrichter oder ein Staatsanwalt, der/das in dem betreffenden Fall zuständig sei, diese Ermittlungsanordnung erlassen habe (vgl. Art. 2 Buchst. c Ziff. ii der RL über die Europäische Ermittlungsanordnung). Die Einstufung des Staatsanwalts als „Anordnungsbehörde“ oder „Justizbehörde“ sei nach dieser Richtlinie nicht davon abhängig, dass kein rechtliches Unterordnungsverhältnis zur Exekutive des Mitgliedstaates, dem er angehöre, bestehe.

Der Erlass oder die Validierung einer Europäischen Ermittlungsanordnung unterliege einem anderen Verfahren und anderen Garantien, als sie für die Ausstellung eines EHB gelten. Nach der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung müsse ein Staatsanwalt, der eine solche Anordnung erlasse oder validiere, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte der betroffenen Person berücksichtigen und müssen gegen seine Anordnung wirksame Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die zumindest denen gleichwertig seien, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen. Der EuGH hebt weiter die von dieser Richtlinie eröffnete Möglichkeit der Vollstreckungsbehörde und allgemein des Vollstreckungsstaats hervor, mittels verschiedener Mechanismen auf die Wahrung dieses Grundsatzes und die Grundrechte der betroffenen Person zu achten. Daraus sei zu schlussfolgern, dass die Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung sowohl im Stadium des Erlasses oder der Validierung als auch im Stadium der Vollstreckung der Europäischen Ermittlungsanordnung eine Reihe von Garantien enthalte, die den Schutz der Grundrechte der betroffenen Person sicherstellen könnten.

Das mit einer Europäischen Ermittlungsanordnung verfolgte Ziel unterscheide sich von dem mit einem Europäischen Haftbefehl verfolgten Ziel. Während nämlich der Europäische Haftbefehl auf die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung gerichtet sei, ziele die Europäische Ermittlungsanordnung auf die Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) zur Erlangung von Beweisen ab. Auch wenn einige dieser Maßnahmen eingriffsintensiv sein könnten, sei die Europäische Ermittlungsanordnung anders als der Europäische Haftbefehl nicht geeignet, das Recht der betroffenen Person auf Freiheit zu beeinträchtigen.

In Anbetracht dieser Unterschiede zwischen dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung sei die Auslegung in den jüngst ergangenen Urteilen des EuGH vom 27.05.2019, wonach der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne dieses Rahmenbeschlusses die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaates nicht erfasse, die der Gefahr von Einzelweisungen seitens der Exekutive ausgesetzt seien, im Kontext der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung nicht anwendbar.