Beim Widerruf der Anwaltszulassung keine zu strenge Handhabung der Zulassung der Berufung

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 22. Juli 2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 561/19 entschieden, dass die übermäßig strenge Handhabung der Berufungszulassungsregelung die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt.

Das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet keinen Anspruch auf die Einrichtung eines bestimmten Rechtszuges. Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Das Gleiche gilt, wenn das Prozessrecht – wie hier die §§ 124, 124a VwGO – den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten.

Danach ist eine Auslegung und Anwendung der §§ 124, 124a VwGO mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar, wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv willkürlich erweist und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar erschwert. Dies gilt sowohl für die gerichtliche Handhabung der Anforderungen an die Darlegung der gesetzlich vorgesehenen Zulassungsgründe als auch für die Handhabung der Anforderungen an das Vorliegen von Zulassungsgründen selbst.

Für die Handhabung der Anforderungen an Darlegung und Vorliegen von Zulassungsgründen ergeben sich für die verschiedenen Zulassungsgründe je eigene verfassungsrechtliche Anforderungen.

Die Anforderungen an das Vorliegen eines Zulassungsgrundes werden insbesondere dann in verfassungswidriger Weise überspannt, wenn das Gericht zur Ablehnung der Zulassung in einer sachlichen Tiefe argumentiert oder argumentieren müsste, die dem eigentlichen Rechtsmittelverfahren vorbehalten ist. Dies wird dem Charakter des Zulassungsverfahrens nicht gerecht und versperrt unzulässig den Zugang zur nächsten Instanz, in der eine vertiefte Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen stattfinden müsste. Steht wie hier ein Antrag auf Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 4 VwGO in einem Verfahren in Rede, in dem eine Abweichung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von der des Bundesfinanzhofs in Betracht kommt, wird dann nicht nur die Möglichkeit des Berufungsverfahrens abgeschnitten, sondern kann letztlich zugleich eine Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) versperrt sein (vgl. BVerfGE 151, 173 <185 Rn. 30>).

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind nicht erst dann gegeben, wenn bei der im Zulassungsverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher ist als der Misserfolg. Denn das Zulassungsverfahren hat nicht die Aufgabe, das Berufungsverfahren vorwegzunehmen. Ernstliche Zweifel sind vielmehr bereits dann begründet, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (BVerfGE 151, 173 <186 Rn. 32>; vgl. dazu auch BVerfGE 110, 77 <83>; 125, 104 <140>).

Der angegriffene Beschluss wird diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Der Bundesgerichtshof hat durch seine Handhabung der Zulassungsanforderungen den Zugang zur Berufungsinstanz in durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert und dadurch das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt.

Der Bundesgerichtshof verneint nicht, dass der Beschwerdeführer die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils hinreichend dargelegt hätte, sondern geht lediglich davon aus, dass dieser Grund in der Sache nicht vorliegt. Eine Argumentation auf der Darlegungsebene erfolgt somit gerade nicht.

Die Erwägungen des Bundesgerichtshofs zum Fehlen der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO halten einer verfassungsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Gericht argumentiert bereits zur Ablehnung der Zulassung in einer sachlichen Tiefe, die dem eigentlichen Rechtsmittelverfahren vorbehalten ist. Dies wird dem Charakter des Zulassungsverfahrens nicht gerecht.

Das klageverwerfende Urteil des Anwaltsgerichtshofs beruht maßgeblich auf der Annahme der Versäumung der Klagefrist des § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO in Verbindung mit § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO von einem Monat ab Zustellung des angefochtenen Bescheides. Gegen die Wirksamkeit der Zustellung vom 17. Februar 2016 wegen des – entgegen § 180 Satz 3 ZPO – fehlenden Vermerks über das Datum der Einlegung des Schriftstücks in den Briefkasten des Beschwerdeführers auf dem Umschlag bestanden jedoch Bedenken, deren Schlüssigkeit im Sinne einer „ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung“ begründenden Gegenargumentation hier nicht sachlich vertretbar abgelehnt werden konnte. Zwar gehen zahlreiche Gerichte unter Bezugnahme auf die ganz überwiegende Meinung in der Literatur auch bei einem Verstoß gegen § 180 Satz 3 ZPO von einer wirksamen Zustellung aus. Der Beschwerdeführer hat jedoch in seinem Antrag auf Zulassung der Berufung unter Bezugnahme auf die entgegenstehende Entscheidung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs vom 6. Mai 2014 – GrS 2/13 – jedenfalls schlüssige Gegenargumente vorgebracht. Für seine Annahme, dass § 180 Satz 3 ZPO als eine zwingende Zustellungsvorschrift anzusehen sei, spricht, dass auch § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO in der bis 30. Juni 2002 gültigen Fassung als zwingende Zustellungsvorschrift anerkannt war, deren Verletzung zwar nicht zur Unwirksamkeit der Zustellung führte, gleichwohl aber eine Heilung des Mangels erst nach Maßgabe von § 187 ZPO in der bis 30. Juni 2002 gültigen Fassung eintrat. Diese Heilung setzte einen tatsächlichen Zugang beim Zustellempfänger voraus, die aber – anders als nach § 189 ZPO in der seit 1. Juli 2002 gültigen Fassung – keine Notfrist in Lauf setzte, § 187 S. 2 ZPO in der bis 30. Juni 2002 gültigen Fassung. Damit war der Zustelladressat weitgehend vor prozessualen Rechtsnachteilen, die sich aus diesem Mangel ergaben, geschützt. Ob auch aktuell der Zustelladressat dieses Schutzes bedarf, wovon mehrere Senate des Bundesfinanzhofs ausgehen, beziehungsweise auf welchem prozessualen Weg – auch nach dem Willen des Gesetzgebers – Konsequenzen aus dem Fehlen oder der Fehlerhaftigkeit eines Vermerks nach § 180 S. 3 ZPO angezeigt sind, bedarf einer Argumentationstiefe, die über die Anforderungen des Zulassungsverfahrens hinausgeht. Insoweit kann dahinstehen, ob dem vom Beschwerdeführer in Bezug genommenen Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (Beschluss vom 6. Mai 2014 – GrS 2/13 -) die ihm zugeschriebene Bindungswirkung an die Vorlagefrage des dortigen Ausgangssenats zukam.