Einstweilige Anordnung ohne Anhörung der Gegenseite

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 21. April 2022 zum Aktenzeichen 1 BvR 812/22 entschieden, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Anhörung der Gegenseite verfassungswidrig erlassen hat.

Das zugrundeliegende Verfahren betrifft die Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen.

Mit vierseitigem Schriftsatz vom 9. Februar 2022 ließ die Antragstellerin die Beschwerdeführerin abmahnen und verlangte bis zum 14. Februar 2022 die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung hinsichtlich dieser Fotografien. Die Veröffentlichung der Bildnisse sei zu unterlassen, da die Antragstellerin weder der Beschwerdeführerin noch den in Bezug genommenen Quellen eine Einwilligung erteilt habe und keine Ausnahme vom Einwilligungserfordernis vorliege.

Die Beschwerdeführerin wies die Abmahnung mit Schreiben vom 14. Februar 2022 zurück. Sie habe ausschließlich Bilder verwendet, die ohnehin für jedermann im Internet abrufbar gewesen seien, weil die Antragstellerin damit für ihre Dienstleistungen geworben habe.

Unter dem 2. März 2022 beantragte die Antragstellerin beim Landgericht Hamburg den Erlass einer einstweiligen Verfügung, es der Beschwerdeführerin unter Androhung von Ordnungsmitteln zu untersagen, die beiden Bildnisse der Antragstellerin ohne deren Einwilligung öffentlich zur Schau zu stellen/stellen zu lassen und/oder zu verbreiten/verbreiten zu lassen. In dem sieben Seiten umfassenden Schriftsatz wurde erstmalig vorgetragen, die Fotografien stammten von zwei näher bezeichneten Internetseiten, auf denen sie ohne Einwilligung verbreitet und inzwischen gelöscht worden seien. Die Löschung der Bilder von einer dritten Internetseite habe die Antragstellerin bisher nicht durchsetzen können. Ursprünglich seien die Bildnisse mit ihrer Einwilligung unter einem Pseudonym auf einer Agenturseite veröffentlicht worden, bis sie im April 2021 gelöscht worden seien. Zur Glaubhaftmachung legte die Antragstellerin eine eidesstattliche Versicherung vom 1. März 2022 vor.

Mit Beschluss vom 8. März 2022 erließ das Landgericht Hamburg wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung antragsgemäß die einstweilige Verfügung. Zur Begründung stützte sich das Landgericht maßgeblich auf die Angaben der Antragstellerin zur Herkunft der Fotografien, die sie durch ihre eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht habe. Eine Anhörung der Beschwerdeführerin war nicht erfolgt.

Die Anforderungen, die sich aus der prozessualen Waffengleichheit in äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahren ergeben, sind eingehend verfassungsgerichtlich klargestellt.

Angesichts dessen führt die vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen. Denn die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der gerügten Verletzung der prozessualen Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren offensichtlich zulässig und begründet.

Insbesondere ist der Rechtsweg, unabhängig von dem noch fortdauernden Ausgangsverfahren, erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Die Beschwerdeführerin macht eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass einer äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügung geltend. Sie wendet sich dabei gegen ein bewusstes Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kann aber eine Missachtung von Verfahrensrechten als solche nicht geltend gemacht werden, weil er von den Erfolgsaussichten in der Sache abhängt. Auch sonst gibt es keinen Rechtsbehelf, mit dem eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit eigens als solche vor den Fachgerichten geltend gemacht werden könnte. Die Verfassungsbeschwerde kann daher ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung erhoben werden.

Da die Rechtsbeeinträchtigung durch die Verfügung in Gestalt eines weiterhin vollstreckbaren Unterlassungstitels fortdauert, muss die Beschwerdeführerin hierzu kein besonders gewichtiges Feststellungsinteresse geltend machen.

Die einstweilige Verfügung des Landgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Die hier maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Es muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit eingeräumt werden, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen. Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass sonst der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde. Im Presse- und Äußerungsrecht kann jedenfalls nicht als Regel von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen ausgegangen werden.

Von der Frage der Anhörung und Einbeziehung der Gegenseite zu unterscheiden ist die Frage, in welchen Fällen über den Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann. Für die Beurteilung, wann ein dringender Fall im Sinne des § 937 Abs. 2 ZPO vorliegt und damit auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, haben die Fachgerichte einen weiten Wertungsrahmen. Die Annahme einer Dringlichkeit setzt freilich sowohl seitens des Antragstellers als auch seitens des Gerichts eine entsprechend zügige Verfahrensführung voraus.

Über eine einstweilige Verfügung wird in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten gleichwohl angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden müssen. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung berechtigt ein Gericht jedoch nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag generell aus dem Verfahren herauszuhalten. Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern.

Dabei ist von Verfassung wegen nichts dagegen zu erinnern, wenn das Gericht in solchen Eilverfahren auch die Möglichkeiten einbezieht, die es der Gegenseite vorprozessual erlauben, sich zu dem Verfügungsantrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Hierfür kann auf die Möglichkeit zur Erwiderung gegenüber einer dem Verfügungsverfahren vorangehenden Abmahnung abgestellt werden. Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügen die Erwiderungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ vorliegen: der Verfügungsantrag muss im Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht werden; die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung muss mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sein; der Antragsteller muss ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht einreichen. Demgegenüber ist dem Antragsgegner Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird.

Nach diesen Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss die Beschwerdeführerin offenkundig in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Durch Erlass der einstweiligen Verfügung ohne jegliche Einbeziehung der Beschwerdeführerin war keine Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber der Verfahrensgegnerin gewährleistet. Dass die vierseitige Abmahnung der Antragstellerin gegenüber der Beschwerdeführerin nicht kongruent mit der siebenseitigen Antragsschrift gegenüber dem Gericht war, liegt auf der Hand. Zwar hatte die Antragstellerin die Beschwerdeführerin außerprozessual abgemahnt. Inhaltlich konnte sich die Beschwerdeführerin in ihrer Erwiderung jedoch nur an der sehr knapp gefassten Begründung des Mahnschreibens orientieren. Eine Stellungnahme zu den weitergehenden Ausführungen der Antragsschrift sowie zur eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin war der Beschwerdeführerin nicht möglich. Die Beschwerdeführerin hätte – gegebenenfalls auch fernmündlich oder per E-Mail – Gelegenheit bekommen müssen, sich zu diesem weiteren und ergänzten Vortrag zu äußern, auf den das Landgericht seinen Beschluss maßgeblich stützte. Hinzu kommt, dass die Antragstellerin nach Ablauf der in ihrer Abmahnung gesetzten (knappen) Frist für die begehrte Unterlassungserklärung zweieinhalb Wochen verstreichen ließ, ohne gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Angesichts dem offenbaren Fehlen einer besonderen Dringlichkeit der Sache hat damit erkennbar genug Zeit für eine Einbindung der Beschwerdeführerin bestanden. Eine solche Frist zur Stellungnahme hätte kurz bemessen sein können. Unzulässig ist es jedoch, wegen einer gegebenenfalls durch die Anhörung des Antragsgegners befürchteten Verzögerung oder wegen einer durch die Stellungnahme erforderlichen, arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung mit einem einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungstitel zu belasten.

Die Außervollzugsetzung der verfahrenswidrig zustande gekommenen Entscheidung gibt dem Landgericht Hamburg Gelegenheit, bei einer neuerlichen Entscheidung gemäß den nach § 31 Abs. 1, § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG rechtlich bindenden Maßstäben der oben genannten Kammerbeschlüsse beide Seiten einzubeziehen und deren Vortrag zu berücksichtigen.