Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Telekommunikationsüberwachung bei Nichtbeschuldigtem mangels gesicherter Tatsachenbasis

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 21. März 2023 zum Aktenzeichen 2 BvR 626/20 entschieden, dass eine Telekommunikationsüberwachung bei Nichtbeschuldigtem mangels gesicherter Tatsachenbasis verfassungswidrig ist.

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist ein gegen den Vater des Beschwerdeführers, (…) (im Folgenden: Beschuldigter), geführtes Ermittlungsverfahren. Ihm wird vorgeworfen, sich 1980 seiner damals 17-jähriger Tochter (…) in der Absicht genähert zu haben, an dieser gegen ihren Willen sexuelle Handlungen vorzunehmen. Er soll sie auf bislang unbekannte Weise getötet haben, um den vorausgegangenen Übergriff zu verdecken und der Strafverfolgung zu entgehen. Das Verfahren wurde 1980 sowie nach kurzzeitiger Wiederaufnahme im Jahr 1981 eingestellt, nachdem die Ermittlungen erfolglos verlaufen waren. Nach einer verbüßten Haftstrafe in einer anderen Sache verließ der Beschuldigte das Bundesgebiet. Seitdem lebt er in Costa Rica.

Angesichts weiterhin bestehender Zweifel an der Unschuld des Beschuldigten nahm die Staatsanwaltschaft Hamburg im Jahr 2019 die Ermittlungen wieder auf. Auf ihren Antrag ordnete das Amtsgericht Hamburg mit hier nicht gegenständlichem Beschluss vom 20. August 2019 die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation der costa-ricanischen Rufnummer des Beschuldigten im Wege der Auslandskopfüberwachung bis zum Ablauf des 20. Oktober 2019 an. In einem Vermerk vom 3. September 2019 stellte das Landeskriminalamt Hamburg fest, dass bis dahin keine Kommunikation zum oder vom überwachten Anschluss des Beschuldigten erfolgt sei.

Das Landeskriminalamt Hamburg kontaktierte den Beschwerdeführer am 2. September 2019, um mit ihm einen Vernehmungstermin zu vereinbaren. Über den Gesprächsinhalt fertigte die zuständige Kriminalbeamtin folgenden Vermerk:

Nachdem am 02.09.2019 durch (…) die telefonische Erreichbarkeit ihres in Hessen lebenden Bruders (…) bekannt wurde, wurde dieser am 02.09.2019 gegen 17:15 Uhr durch die Unterzeichnerin fernmündlich kontaktiert. Herrn (…) wurde zunächst erläutert, dass die Ermittlungen im Fall des Verschwindens seiner Schwester (…) wieder aufgenommen worden seien und aufgrund dessen ein Interesse daran bestehe, ihn zum Sachverhalt zu hören. Herr (…) erklärte, sich hierfür gerne Zeit zu nehmen, sodass eine Vernehmung für den 25.09.2019 in Hessen anvisiert wurde. Weiter fragte Herr (…) schließlich, ob die Unterzeichnerin wisse, ob sein ‚juristischer Vater‘ noch lebe. Dieser sei nach Costa Rica ausgewandert. Bevor die Unterzeichnerin Herrn (…) auf diese Frage antworten konnte, teilte dieser weiter mit, in den 90er Jahren Kontakt zu seinem Vater aufgenommen zu haben. Hierfür sei er nach Costa Rica, im Bereich des Playa de Coco, geflogen und ‚habe ihn gefragt‘, da er ihn ‚eigentlich immer im Verdacht‘ gehabt habe. Hierauf habe sein Vater nicht geantwortet. Auf Nachfrage, ob Herr (…) noch im Besitz von Kontaktdaten seines Vaters sei, schilderte er, nicht zu wissen, ob er noch derartige vorliegen habe. Dies sei in einer Zeit ohne Internet gewesen. Seitdem habe er seinen Vater nie wieder gesehen. Da Herr (…) nun nochmals fragte, ob sein Vater am Leben sei, wurde ihm dies von der Unterzeichnerin bejaht.

Die Staatsanwaltschaft Hamburg stellte daraufhin den Antrag, die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zweier Telefonrufnummern des Beschwerdeführers anzuordnen. Zur Begründung führte die Staatsanwaltschaft im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer nach Bekanntwerden der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens Kontakt zum Beschuldigten aufnehmen werde und verwies hierzu auf die Erkenntnisse aus dem Telefonat vom 2. September 2019. Das Amtsgericht Hamburg wies diesen Antrag mit Beschluss vom 3. September 2019 zurück.

Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hamburg ordnete das Landgericht Hamburg mit Beschluss vom 4. September 2019 die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zweier Telefonrufnummern des Beschwerdeführers bis zum Ablauf des 20. Oktober 2019 an. Es sei zu erwarten, dass der Beschwerdeführer, der von der Wiederaufnahme der Ermittlungen Kenntnis und offenbar weiterhin Interesse an der Aufklärung des Sachverhalts habe, wieder Kontakt zum Beschuldigten aufnehmen werde, um mit diesem hierüber zu sprechen.

Die Überwachung der Telekommunikation des Beschwerdeführers wurde am 8. Oktober 2019 abgeschaltet.

Beschränkungen des Fernmeldegeheimnisses dürfen gemäß Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden. Das grundrechtseinschränkende Gesetz ist seinerseits aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung des Fernmeldegeheimnisses und so in seiner grundrechtsbegrenzenden Wirkung selbst wieder im Lichte des Grundrechts auszulegen. Der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt deshalb, ob die Fachgerichte den Einfluss der Grundrechte auf die Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Normen des einfachen Rechts ausreichend beachtet haben, damit der wertsetzende Gehalt der Grundrechte auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (BVerfGE 107, 299 <315>).

Die Anordnung einer Telekommunikationsüberwachung zu strafprozessualen Zwecken setzt nach § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO voraus, dass bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, der Beschuldigte habe als Täter oder Teilnehmer eine schwere Straftat aus dem Katalog des § 100a Abs. 2 StPO begangen, die Tat auch im Einzelfall schwer wiegt und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre. Unter den Voraussetzungen des § 100a Abs. 3 StPO kann eine Telekommunikationsüberwachung auch gegenüber Nichtbeschuldigten angeordnet werden. Der Wortlaut der Vorschrift setzt hierfür voraus, dass aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass die Person für den Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennimmt oder weitergibt oder dass der Beschuldigte ihren Anschluss oder ihr informationstechnisches System benutzt. Soweit Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen gegen Nichtbeschuldigte angeordnet werden, ist für die Annahme der Nachrichtenmittlereigenschaft von Verfassungs wegen eine gesicherte Tatsachenbasis unerlässlich. Das Gewicht des Eingriffs verlangt Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Bloßes Gerede, nicht überprüfte Gerüchte und Vermutungen reichen nicht aus. Erforderlich ist, dass aufgrund der Lebenserfahrung oder der kriminalistischen Erfahrung fallbezogen aus Zeugenaussagen, Observationen oder anderen sachlichen Beweisanzeichen auf die Eigenschaft als Nachrichtenmittler geschlossen werden kann (vgl. BVerfGE 107, 299 <322 f.>; BVerfGK 11, 119 <125>).

Die Fachgerichte haben den Einfluss des Grundrechts des Art. 10 GG bei der Auslegung und Anwendung des § 100a Abs. 3 StPO nicht ausreichend beachtet.

Zwar ist gegen die fachgerichtliche Annahme, dass die Voraussetzungen des § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO vorliegen, in verfassungsrechtlicher Hinsicht nichts zu erinnern. Aus der Ermittlungsakte ergibt sich, dass die Ermittlungsbehörden insbesondere aus widersprüchlichen Einlassungen des Beschuldigten geschlossen haben, dass dieser Zeit, Gelegenheit und ein Motiv dafür gehabt haben könnte, (…) getötet zu haben. Die Ermittlungsbehörden haben auch andere Erklärungsversuche für das Verschwinden von (…) untersucht und sind aufgrund intensiver Auseinandersetzung mit allen bislang bekannten Erkenntnissen und Ermittlungsergebnissen zu dem Ergebnis gelangt, dass ein vom Beschuldigten begangener Mord der plausibelste Hergang gewesen sein muss. Die auf diese konkreten Tatsachen gestützten Erwägungen sind sorgfältig begründet und in der Sache nachvollziehbar, sodass die Annahme des Tatverdachts eines auch im Einzelfall schwerwiegenden Mordes – einer in § 100a Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe h StPO erfassten Katalogtat – vertretbar war. Die Annahme, dass die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten ohne die Telekommunikationsüberwachung wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre (§ 100a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO), erschien ebenso vertretbar, nachdem zahlreiche Ermittlungsbemühungen in der Vergangenheit keine weiteren Erkenntnisse zu erbringen vermochten.

Hingegen beruht die für den Tatbestand des § 100a Abs. 3 StPO erforderliche Annahme, es werde zwischen dem Beschwerdeführer und dem Beschuldigten zu einem Austausch oder einer Entgegennahme bestimmter Informationen kommen, lediglich auf vagen Anhaltspunkten und bloßen Vermutungen und ist daher von Verfassungs wegen nicht haltbar.

Die Fachgerichte haben die Anordnung der Telekommunikationsüberwachung gegenüber dem Beschwerdeführer allein auf dessen Aussagen im Telefonat mit dem Landeskriminalamt am 2. September 2019 gestützt. Diesen Aussagen und dem dort mitgeteilten Verhalten des Beschwerdeführers konnten keine belastbaren Anhaltspunkte dafür entnommen werden, die die Annahme eines zu erwartenden Informationsaustauschs zwischen Beschwerdeführer und dem Beschuldigen nachvollziehbar zu begründen vermochten. So war es bereits mehr als zweifelhaft, ob überhaupt angenommen werden konnte, dass der Beschwerdeführer sich mit dem Beschuldigten in Kontakt setzen oder dies jedenfalls versuchen würde. Ausweislich der Angaben des Beschwerdeführers lag der letzte Kontakt zum Beschuldigten etwa 30 Jahre zurück. Seitdem fand kein Kontakt mehr statt. Nachdem der Beschuldigte bereits auf die persönliche Konfrontation durch den Beschwerdeführer in Costa Rica geschwiegen hatte, war unklar, welchen Anlass der Beschuldigte haben sollte, nun doch mit dem Beschwerdeführer über den Sachverhalt zu sprechen. Ein Verhältnis, welches einen Austausch etwaiger Informationen nahegelegt hätte, schien nicht zu bestehen, zumal der Beschwerdeführer offenbar noch nicht einmal sichere Kenntnis davon hatte, ob der Beschuldigte noch lebt. Aus welchem Grund der Beschwerdeführer vor diesem Hintergrund den Kontakt zum Beschuldigten suchen sollte, bleibt im Dunkeln.

Ebenso stand nicht fest, ob der Beschwerdeführer überhaupt über eine Telefonnummer des Beschuldigten oder sonstige Kontaktmöglichkeiten zu diesem verfügte. Die Angaben des Beschwerdeführers, er wisse nicht, ob er noch Kontaktdaten des Beschuldigten habe, lassen vielmehr darauf schließen, dass er sich für einen Kontakt noch um entsprechende Daten bemühen müsste. Ob er hierzu willens und in der Lage war, ist völlig unklar. Die Ausführungen der Staatsanwaltschaft, es bestehe die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer den Beschuldigten erreichen oder für die Erreichbarkeit sorgen könne, erweisen sich vor diesem Hintergrund als bloße Vermutung und nicht durch entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte gedeckt.

Die Annahme der Nachrichtenmittlereigenschaft erschöpft sich vorliegend darin, dass aus einer in den Neunzigerjahren erfolgten Reise des Beschwerdeführers zum Beschuldigten nach Costa Rica und der Konfrontation des Beschuldigten mit dem Tatvorwurf darauf geschlossen wird, der Beschwerdeführer werde sich 30 Jahre später erneut um einen Kontakt mit dem Beschuldigten bemühen. Diese Annahme beruht auf nicht tragfähigen Vermutungen und vermag den schwerwiegenden Eingriff in das grundrechtlich geschützte Fernmeldegeheimnis nicht zu rechtfertigen.