EU-Treffen in Porto: Sozialpolitik, Beziehungen zu Indien und Bekämpfung der Pandemie im Fokus

11. Mai 2021 -

Bundeskanzlerin Merkel hat am 07.05. und 08.05.2021 virtuell an einem informellen Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in Porto teilgenommen, bei dem auch die „Erklärung von Porto“ verabschiedet wurde.

Aus der Pressemitteilungen der BReg und des Europäischen Rates vom 08.05.2021 ergibt sich:

Im Mittelpunkt stand neben der Pandemiebekämpfung die Europäische Sozialpolitik. Auf einem EU-Indien-Gipfel ging es um den Ausbau der Beziehungen zur bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt.

Die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft hat an diesem Wochenende zu einem zweitägigen Gipfel nach Porto eingeladen. Er gliederte sich in drei Teile: einen Sozialgipfel, einen informellen Europäischen Rat sowie einen EU-Indien-Gipfel. Einige Teilnehmer waren vor Ort, andere – wie Kanzlerin Merkel – nahmen digital teil.

Portugal ist es in den vergangenen Monaten gelungen, mit intensiven Maßnahmen die Inzidenzzahlen in den Griff zu bekommen. Dennoch hat die Bundeskanzlerin Ministerpräsident Costa gebeten, per Videozuschaltung an dem Gipfel teilzunehmen. Sie traf diese Entscheidung mit Blick auf die Situation in Deutschland und die strengen Beschränkungen, unter denen die Menschen in Deutschland derzeit zu leben haben.

Soziale Dimension Europas stärken

Im Mittelpunkt des Treffens stand die Europäische Sozialpolitik – ein Schwerpunkt der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft. Bevor am Freitagabend alle 27 Staats- und Regierungschefs zu ersten Gesprächen zusammengekommen sind, fand bereits am Nachmittag eine hochrangige Konferenz zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte statt.

Dazu eingeladen waren die Staats- und Regierungschefs oder in Vertretung die Arbeits- und Sozialminister. Für die Bundesregierung war Bundessozialminister Heil dabei. Außerdem nehmen die Spitzen der EU-Institutionen teil sowie die Sozialpartner und Vertreter der Zivilgesellschaft. Die europäischen Sozialpartner verabschiedeten eine Erklärung zur Stärkung der Europäischen Säule Sozialer Rechte, das sogenannte „Porto Social Commitment“ (Englisch).

Ausgangspunkt der Gespräche war der Aktionsplan der Europäischen Kommission zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte, die auf dem Sozialgipfel 2017 im schwedischen Göteborg proklamiert wurde. Der Aktionsplan legt drei Hauptziele fest, die bis 2030 erreicht werden sollen:
1. Beschäftigungsquote der 20-64-Jährigen von mindestens 78 Prozent in der Europäischen Union
2. jährliche Fortbildungen für mindestens 60 Prozent der Erwachsenen,
3. Verringerung der Zahl der von sozialer Ausgrenzung oder Armut bedrohten Menschen um mindestens 15 Millionen Menschen, darunter 5 Millionen Kinder

Staats- und Regierungschefs verabschieden „Erklärung von Porto“

Beim anschließenden informellen Europäischen Rat am Samstag befassten sich die Staats- und Regierungschefs ebenfalls mit der sozialen Dimension der EU und verständigten sich auf die „Erklärung von Porto“. Kanzlerin Merkel begrüßte den Aktionsplan der Kommission. Die Diskussion zum sozialen Europa habe zum richtigen Zeitpunkt stattgefunden – denn in allen Mitgliedsstaaten „sind gerade junge Menschen sehr stark beeinträchtigt“, auch Arbeitsplätze seien in Gefahr. Die soziale Säule der Europäischen Union sei daher „von ganz besonderer Wichtigkeit“.

Europäische Sozialpolitik – Warum ist das wichtig?

Die Folgen der Pandemie, der Klimawandel und digitale Wandel stellen die EU vor enorme Herausforderungen. Die soziale Dimension spielt dabei eine wichtige Rolle. Das Bekenntnis zu Einheit und Solidarität der EU bedeutet auch, Chancengleichheit für alle zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass niemand zurückgelassen wird.

Austausch über die Pandemie

Neben der EU-Sozialpolitik war die Pandemiebekämpfung ein weiteres wichtiges Thema der Staats- und Regierungschefs. Kanzlerin Merkel begrüßte es sehr, dass die Europäische Kommission einen weiteren großen Vertrag mit BionTech/Pfizer abgeschlossen hat, der zusätzliche und künftige Impfungen in den Blick nimmt. Der Vertrag umfasse auch Leistungen des Herstellers für die Anpassung des Impfstoffs, wenn es zu Mutationen komme. „Wir werden diese mittel- und langfristige Produktion von Impfstoffen und die Unterstützung von Innovation und Wissenschaft natürlich brauchen“, erklärte Merkel.

Rat diskutiert Patentschutz für Impfstoffe

Merkel berichtete, der Rat habe eine sehr ausgewogene Diskussion über die Impfstoffe geführt. Sie habe deutlich gemacht, dass sie in der Freigabe von Patenten nicht die Lösung sehe, um mehr Menschen mit Impfstoff zu versorgen. Dafür brauche man vielmehr „die Kreativität und Innovationskraft der Unternehmen“ – und dazu „gehört für mich der Patentschutz“, betonte Merkel. Es gebe keinerlei Anzeichen dafür, dass die Hersteller nicht daran arbeiten, „die Produktionskapazität zu erhöhen, Lizenzen zu vergeben und zu kooperieren“. Der Weg von BionTech vom StartUp zum Großproduzenten zeige, „in welcher Geschwindigkeit hier wie viel geschafft wurde“.

Wichtig sei, „wirklich auch qualitativ hochwertigen Impfstoff herzustellen“, so Merkel. Wenn eine Patentfreigabe erfolge, ohne dass die Qualität  „jedes Mal gut kontrolliert werden kann, dann sehe ich mehr Risiken als Chancen“. „Wir werden alles tun, um die Produktion von Impfstoff zu erhöhen und allen Teilen der Welt Zugang zu Werken geben, die diesen Impfstoff herstellen“, erklärte Merkel. Die Infragestellung des Patentschutzes sei jedoch „nicht der Weg, der uns zu mehr und besseren Impfstoff führt“.

Zusammenarbeit mit Indien vertiefen

Bundeskanzlerin Merkel hatte sich bereits am Freitagabend per Video nach Porto dazugeschaltet, um gemeinsam mit den anderen Staats- und Regierungschefs auch den EU-Indien-Gipfel vorzubereiten. Dieser fand mit allen europäischen Ratsmitgliedern am Samstag statt. Der indische Ministerpräsident Modi nahm virtuell daran teil.

Kooperation bei Impfstoffproduktion

Die Corona-Pandemie war mit Blick auf die stark angestiegenen Inzidenzzahlen in Indien ein Schwerpunkt der Gespräche. Alle EU-Staaten hätten „mit Hilfsleistungen für Indien versucht, das Leid, das dieses Land im Augenblick durchmacht, zu mildern“, so Merkel. Dafür habe Premierminister Modi seinen Dank ausgedrückt.

Auf dem Gipfel haben die EU und Indien sich über die Zusammenarbeit bei der Impfstoffproduktion ausgetauscht. Die Kanzlerin betonte, sie könne sich hier eine noch engere Kooperation vorstellen. Die Produktion werde noch Jahre anhalten, „um das Virus wirklich zu besiegen“.

Austausch über Klimaschutz und Freihandel

Mit Blick auf den Klimaschutz bereiteten die EU und Indien gemeinsam den Weltklimagipfel vor, der im November in Glasgow stattfinden wird. Indien habe „eine Vielzahl von doch recht gigantischen Initiativen zum Ausbau der Energieversorgung mit erneuerbaren Energien, vor allem auch mit Sonnenenergie, auf den Weg gebracht“, so Merkel. Im Bereich des Handels habe der Gipfel dazu geführt, dass „wieder Schwung in das Freihandelsabkommen gekommen ist“, unterstrich Merkel. Die Arbeiten daran könnten nun „mit sehr viel mehr Tempo fortgesetzt werden“.

Warum sind die Beziehungen der EU zu Indien wichtig?

Indien ist eine der größten und am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Vor der Corona-Pandemie wuchs das Bruttoinlandsprodukt des Landes jährlich um etwa sechs Prozent. Die EU ist der größte Handelspartner Indiens, während Indien der neuntgrößte Handelspartner der EU ist. Eine vertiefte Zusammenarbeit soll den Menschen in der EU und Indien konkrete Vorteile bieten  – basierend auf gemeinsamen Grundsätzen und Werten wie Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte.

Erklärung von Porto im Wortlaut

  1. Wir unterstreichen die Bedeutung der Einheit und Solidarität Europas bei der Bekämpfung der COVID 19-Pandemie. Diese Werte haben die Reaktion der europäischen Bürgerinnen und Bürger auf diese Krise bestimmt und bilden auch die Grundlage unseres gemeinsamen Projekts und unseres unverkennbaren Sozialmodells. Mehr denn je muss Europa der Kontinent des sozialen Zusammenhalts und des Wohlstands sein. Wir bekräftigen unsere Zusicherung, auf ein soziales Europa hinzuarbeiten.
  2. Seit dem Beginn der COVID 19-Pandemie wurden durch rasche, entscheidende und umfassende Maßnahmen auf EU-Ebene und auf nationaler Ebene Millionen von Menschenleben, Arbeitsplätzen und Unternehmen geschützt.
  3. Derselbe Geist der Einheit und Solidarität hat zu unserer historischen Einigung im Juli 2020 über den Mehrjährigen Finanzrahmen und die spezifischen Aufbaumaßnahmen im Rahmen von „NextGenerationEU“ geführt. Während wir den grünen und den digitalen Wandel vorantreiben, werden diese massiven europäischen Investitionen und die damit verbundenen Reformen die Union und ihre Mitgliedstaaten fest auf einen Reformkurs für eine gerechte, nachhaltige und stabile Erholung bringen. Eine gemeinsame, integrative, zügige und kohärente Erholung wird die Wettbewerbsfähigkeit, Resilienz und soziale Dimension Europas und seine Rolle in der Welt stärken.
  4. Wir begrüßen die Konferenz auf hoher Ebene, die der portugiesische Vorsitz im Rahmen des Sozialgipfels in Porto organisiert hat, und nehmen ihre Ergebnisse zur Kenntnis. Die europäische Säule sozialer Rechte ist ein grundlegendes Element der Erholung. Durch ihre Umsetzung werden die Bemühungen der Union um einen digitalen, grünen und fairen Übergang verstärkt, und es wird ein Beitrag zur Verwirklichung der sozialen und wirtschaftlichen Aufwärtskonvergenz sowie zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen geleistet. Die soziale Dimension, der soziale Dialog und die aktive Einbeziehung der Sozialpartner standen schon immer im Mittelpunkt einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft. Unser Bekenntnis zu Einheit und Solidarität bedeutet auch, dass die Chancengleichheit aller sichergestellt wird und niemand zurückgelassen wird.
  5. Wie in der Strategischen Agenda der EU für 2019-2024 festgelegt, sind wir entschlossen, die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte auf EU-Ebene und auf nationaler Ebene unter gebührender Beachtung der jeweiligen Zuständigkeiten sowie der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit weiter zu intensivieren. Der von der Kommission am 4. März 2021 vorgelegte Aktionsplan bietet eine nützliche Orientierungshilfe für die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, einschließlich in den Bereichen Beschäftigung, Kompetenzen, Gesundheit und Sozialschutz.
  6. Wir begrüßen die neuen EU-Kernziele in den Bereichen Beschäftigung, Kompetenzen und Armutsbekämpfung und das überarbeitete sozialpolitische Scoreboard, die im Aktionsplan vorgeschlagen wurden und dazu beitragen werden, die Fortschritte bei der Umsetzung der Grundsätze der Säule sozialer Rechte als Teil des Prozesses der Koordinierung der Maßnahmen im Rahmen des Europäischen Semesters – unter Berücksichtigung der unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten – zu überwachen.
  7. Mit der schrittweisen Erholung Europas von der COVID 19-Pandemie wird es zur Priorität werden, Arbeitsplätze nicht mehr nur zu schützen, sondern neue zu schaffen und ihre Qualität zu verbessern, wobei kleine und mittlere Unternehmen einschließlich sozialer Unternehmen eine Schlüsselrolle spielen werden. Die Umsetzung der Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte wird ausschlaggebend sein, wenn es darum geht, die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen für alle im Rahmen einer integrativen Erholung zu gewährleisten. In dieser Hinsicht sollte die einschlägige legislative und nichtlegislative Arbeit auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten vorangetrieben werden.
  8. Wir werden Bildung und Kompetenzen in den Mittelpunkt unseres politischen Handelns stellen. Der grüne und der digitale Wandel werden enorme Chancen für die Bürgerinnen und Bürger Europas bieten, aber auch viele Herausforderungen mit sich bringen, die mehr Investitionen in Bildung und Berufsbildung, lebenslanges Lernen, Weiterbildung und Umschulungen erfordern werden, um Anreize für Beschäftigungsübergänge in Branchen mit einer zunehmenden Nachfrage nach Arbeitskräften zu schaffen. Gleichzeitig werden Veränderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz, der Telearbeit und der Plattformwirtschaft besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Stärkung der Arbeitnehmerrechte, der Systeme der sozialen Sicherheit sowie der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz erfordern.
  9. Wir setzen uns für die Verringerung von Ungleichheiten, die Verteidigung einer gerechten Entlohnung und die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Armut ein; dabei verfolgen wir insbesondere das Ziel, gegen Kinderarmut vorzugehen und die Risiken der Ausgrenzung von besonders schutzbedürftigen sozialen Gruppen wie Langzeitarbeitslosen, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen und Wohnungslosen anzugehen.
  10. Im Einklang mit den Grundwerten der Europäischen Union und Grundsatz 2 der europäischen Säule sozialer Rechte werden wir unsere Bemühungen zur Bekämpfung der Diskriminierung verstärken und aktiv darauf hinarbeiten, die geschlechtsbedingten Beschäftigungs-, Verdienst- und Rentengefälle zu beseitigen sowie Gleichberechtigung und Gerechtigkeit für alle Mitglieder unserer Gesellschaft zu fördern.
  11. Wir werden vorrangig Maßnahmen zur Unterstützung junger Menschen ergreifen, auf die sich die COVID 19-Krise besonders nachteilig ausgewirkt hat und deren Teilhabe am Arbeitsmarkt sowie deren Aus- und Weiterbildungspläne schwerwiegend beeinträchtigt wurden. Junge Menschen sind für Europa eine unverzichtbare Quelle für Dynamik, Talent und Kreativität. Wir müssen sicherstellen, dass sie zur treibenden Kraft der integrativen grünen und digitalen Erholung werden und so zum Aufbau des Europas der Zukunft beitragen, auch indem wir das Potenzial von Erasmus+ voll ausschöpfen, um die Mobilität aller Studierenden und Auszubildenden in ganz Europa zu fördern.
  12. Wir betonen, wie wichtig es ist, die bei der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und der EU-Kernziele für 2030 erzielten Fortschritte genau zu beobachten – auch auf höchster Ebene.
  13. Wir begrüßen als einen weiteren Erfolg des europäischen sozialen Dialogs, dass die europäischen Sozialpartner einen gemeinsamen Vorschlag für eine Reihe alternativer Indikatoren zur Messung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritte, die das BIP als Wohlstandsindikator für integratives und nachhaltiges Wachstum ergänzen sollen, vorgelegt haben.