Der BGH hat mit Urteil vom 18. Juni 2025 (Az. I ZR 99/24) klargestellt, dass ein Anwalt, der im Auftrag eines Mandanten Forderungen gegenüber Verbrauchern geltend macht, in diesen Schreiben regelmäßig keine eigene „geschäftliche Handlung“ im Sinne des UWG begeht. Im entschiedenen Fall ging es um ein Inkassoschreiben einer Hamburger Kanzlei, die im Namen einer „G. Gr. GmbH“ behauptete, ein 85-Jähriger habe einen Mobilfunkgerät-Mietvertrag abgeschlossen. Tatsächlich lag nach Ansicht der Verbraucherzentrale ein Identitätsdiebstahl vor, denn es gab weder den Vertrag noch exakt diese Firma. Die VZ Baden-Württemberg klagte daraufhin auf Unterlassung und argumentierte, das Schreiben sei irreführend. Die beklagte Kanzlei hatte sich in allen Instanzen dagegen gewehrt und schließlich Erfolg: Der BGH wies die Revision ab und bestätigte, dass Anwälte bei solchen Schreiben nicht wie Mitbewerber gehandelt haben.
Hintergrund und Urteil
In dem Fall behauptete die Kanzlei in einem Brief vom 18.2.2022, der Verbraucher habe im November 2020 einen Mobilfunkgeräte-Mietvertrag mit der G. Gr. GmbH geschlossen und schulde rund 165 €. (Weder Vertrag noch die Firma stimmten.) Die Verbraucherzentrale verlangte per Unterlassungsklage, die Kanzlei möge es künftig unterlassen, einen solchen fiktiven Vertragsschluss zu behaupten oder zu unrichtigen Beträgen abzurechnen. Sowohl das Landgericht als auch das OLG Hamburg wiesen die Klage ab. Der BGH schloss sich dieser Linie an. Er betonte, dass bei Inkassoschreiben eines Anwalts nicht die Werbung oder Förderung eigener geschäftlicher Interessen im Vordergrund steht, sondern die Durchsetzung fremder (Mandanten‑)Ansprüche.
Konkret stellte der BGH fest, dass das Anwaltsschreiben zum einen keine „geschäftliche Handlung“ des Anwalts i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 2 UWG ist. Eine geschäftliche Handlung setzt voraus, dass der Handelnde für sein eigenes Unternehmen wirbt oder dies fördert. Hier aber vertrat der Rechtsanwalt nur seinen Mandanten und machte sich die vom Mandanten geschilderten Sachverhalte nicht zu eigen. Selbst wenn die Pflichtangaben nach § 43d BRAO (z.B. Vertragsdatum, Vertragsgegenstand) fehlerhaft waren, änderte das nichts an dieser Beurteilung.
Rechtslage und Begründung
Der Unterlassungsanspruch nach § 8 Abs. 1 UWG setzt voraus, dass die beanstandete Äußerung wettbewerbswidrig ist und eine geschäftliche Handlung darstellt. Der BGH betonte, dass die Behauptung des angeblichen Mietvertrags nur dann in den wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsbereich fiele, wenn sie ein eigenes Geschäftsinteresse des Anwalts verfolge. Dies aber sei nicht der Fall. Vielmehr agiere der Anwalt als “unabhängiges Organ der Rechtspflege”, das im Interesse seines Mandanten handelt. In dieser Rolle setzt er die Mandantenposition in dessen Namen durch, ohne die ihm mitgeteilten Fakten als eigene Behauptung zu übernehmen.
Der Senat führte hierzu u.a. aus: Würde man einem Anwalt in seiner beruflichen Funktion einen Verstoß vorhalten, nur weil er die Angaben seines Mandanten weitergibt, käme das einem Eingriff in dessen grundrechtlich geschützte Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 GG) gleich. Der Anwalt müsste sich andernfalls gezwungen sehen, alle Mandantenangaben vor jeder Forderungsforderung lückenlos zu überprüfen, was das Vertrauensverhältnis zerstören und eine ordnungsgemäße Interessenvertretung praktisch unmöglich machen würde. Schließlich dient die Äußerung des Anwalts im Inkassoschreiben nicht primär der Verkaufsförderung eines Produkts, sondern der rechtlichen Durchsetzung eines (fremden) Anspruchs. Die Förderung des Mandanten-Interesses wirke daher lediglich reflexartig mit – keine eigenständige geschäftliche Handlung.
Konsequenzen für die anwaltliche Praxis
- Keine neue Abmahngefahr. Anwälte können Inkassoschreiben an Verbraucher weiterhin versenden, ohne befürchten zu müssen, wegen Irreführung nach dem UWG belangt zu werden, solange sie im Mandantenauftrag handeln. Das BGH-Urteil sichert ab, dass die Pflichten aus § 43d BRAO (z.B. Hinweispflicht auf Vertragsgegenstand und -datum) zwar gelten, der Rechtsanwalt sich aber auf die Angaben seines Mandanten verlassen darf. Eine eigenständige inhaltliche Überprüfung der Mandantenerklärungen ist nicht zumutbar und wurde ausdrücklich nicht verlangt.
- Berufsrechtliche Freiheit gestärkt. Die Entscheidung betont die besondere Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege. Ein ständiges Risiko von wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsansprüchen gegen Inkasso-Schreiben würde die unabhängige Berufsausübung unzulässig beschränken.
- Unterschied zu Inkassounternehmen. Nichtanwaltliche Inkassodienstleister können nach wie vor nach UWG kontrolliert werden (sie handeln gewerblich). Das Urteil macht deutlich, dass Rechtsanwälte dabei anders behandelt werden dürfen. Ein Inkassounternehmen ist ein gewerbliches Unternehmen, der Anwalt hingegen handelt in erster Linie im Rahmen seines Mandats. Daraus folgt: Unterscheidet man zwischen einem Anwalt und einem Inkassounternehmen, kann nur letzteres wegen irreführender Forderungsforderungen wettbewerbsrechtlich in Anspruch genommen werden.
- Praxis-Tipp für Anwaltskanzleien: Behauptet ein Mandant Zahlungsansprüche, sollte der Anwalt die Pflichtangaben (§ 43d BRAO) an den Schuldner weiterleiten, ohne sich dabei eigene Haftungsrisiken einzuhandeln. Auch wenn Verdachtsmomente bestehen (z.B. unterschiedliche Firma, zwei Forderungsbeträge), genügt nach der Entscheidung, die Mandantenaussagen wiederzugeben. Will der Mandant dennoch eine Forderung titulieren, kann der Anwalt nur empfehlen, den Anspruch gerichtlich klären zu lassen, statt selbst für dessen Wahrheit zu bürgen.
Empfehlungen für Verbraucher
- Prüfen Sie jede Forderung: Erhalten Sie ein Inkassoschreiben, prüfen Sie zuerst sorgfältig, ob der zugrundeliegende Vertrag tatsächlich geschlossen wurde (z.B. anhand von Bestellbestätigungen oder Kontoauszügen). Kommt Ihnen die Forderung unerwartet vor – etwa weil der Angegebene Mobilfunkvertrag nie abgeschlossen wurde – besteht möglicherweise Identitätsdiebstahl.
- Kontakt zum Gläubiger: Wenden Sie sich im Zweifel direkt an das behauptete Vertragsunternehmen (hier etwa die „G. Gr. GmbH“) oder den ursprünglichen Geschäftspartner, von dem die Forderung angeblich stammt. Nach dem BGH-Urteil ist üblicherweise nicht der Anwalt der richtige Ansprechpartner, sondern allein derjenige, der die Forderung erhebt.
- Keine Zahlung ohne Klärung: Zahlen Sie keine strittigen Beträge „aus Gewissensberuhigung“. Leiten Sie stattdessen eine gerichtliche Klärung ein oder verteidigen Sie sich in einem möglichen Klageverfahren. Der BGH weist ausdrücklich darauf hin, dass die Frage eines angeblichen Vertragsverhältnisses in einem Hauptsacheverfahren entschieden werden soll. Verlassen Sie sich darauf, dass der Schuldner (oder dessen Anwalt) in diesem Prozess beweispflichtig ist.
- Klage statt Abmahnung: Nach dem Urteil haben Sie keinen wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruch gegen den Anwalt. Richten Sie sich also nicht auf ein Vorgehen gegen die Kanzlei ein, sondern klären Sie Ihre Rechte über das übliche Mahn- oder Klageverfahren. In der Hauptsache können Sie geltend machen, dass kein Mietvertrag geschlossen wurde – das haben die Richter klargestellt (dass dieser Punkt in der Zahlungsklage behandelt wird).
Das BGH-Urteil stärkt die anwaltliche Berufsausübungsfreiheit und entlastet Kanzleien bei der Forderungsbeitreibung: Anwälte dürfen Inkassoschreiben im Mandatsauftrag versenden, ohne dies als eigene geschäftliche Handlung gewertet zu bekommen. Für Rechtsanwälte bedeutet dies Rechtssicherheit bei der Durchsetzung scheinbar unbestrittener Ansprüche ihrer Mandanten. Verweis auf den Mandanten zurückzukommen. Verbraucher sollten hingegen wissen, dass ihnen weiterhin das normale Klage- und Widerspruchsverfahren offensteht – nicht jedoch ein separater Unterlassungsanspruch gegen die anwaltschaftliche Vorgehensweise.