OLG Karlsruhe, Beschl. v. 03.06.2025, Az. 20 UFH 1/25
Hintergrund des Falls
In einem aktuellen Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe vom 03.06.2025 (Az. 20 UFH 1/25) ging es um ein ungewöhnliches Szenario: Eine am Amtsgericht Ettlingen tätige Richterin hatte die Scheidung von ihrem Ehemann beantragt. Zuständig wäre eigentlich ihr eigenes Gericht (AG Ettlingen) gewesen, da dort der letzte gemeinsame Wohnsitz des Ehepaars lag und der Ehemann weiterhin in diesem Gerichtsbezirk lebt. Das Amtsgericht Ettlingen ist jedoch sehr klein – inklusive der Antragstellerin (der scheidungswilligen Richterin) sind dort nur fünf Richterinnen und Richter beschäftigt. Alle vier übrigen Kollegen der Richterin sahen sich wegen der engen Zusammenarbeit mit ihr außerstande, in der Scheidungsangelegenheit neutral zu entscheiden, und erklärten sich selbst für befangen.
Dieser umfassende Befangenheitsfall hatte zur Folge, dass das gesamte Amtsgericht Ettlingen in dieser Sache rechtlich verhindert war – es konnte keine unbefangene richterliche Entscheidung mehr getroffen werden. Das Verfahren musste daher dem nächsthöheren Gericht vorgelegt werden. Der Direktor des Amtsgerichts übergab den Fall gemäß § 45 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 113 Abs. 1 FamFG an das OLG Karlsruhe. Dort war zu entscheiden, ob die Selbstablehnungen der Amtsrichter gerechtfertigt sind und welches andere Gericht nun die Scheidungssache übernehmen soll.
Befangenheit und Selbstablehnung am eigenen Gericht
Die Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit (Besorgnis der Befangenheit) richtet sich im Familienverfahren nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO), soweit das Familienverfahrensgesetz (FamFG) keine abweichende Regel enthält (§ 113 Abs. 1 FamFG). Relevant sind hier §§ 41 ff., 48 ZPO. Insbesondere § 48 ZPO erlaubt es Richtern, von sich aus Anzeige zu machen, wenn Gründe für eine Ablehnung vorliegen – dies nennt man Selbstablehnung oder Selbstanzeige des Richters. Genau das haben die Kollegen am AG Ettlingen getan: Jeder der vier Richter erstattete binnen weniger Tage eine Selbstanzeige nach §§ 113 Abs. 1 FamFG, 48 ZPO.
Die Gründe für die angezeigte Befangenheit verdeutlichen die enge Verbundenheit am kleinen Amtsgericht: Ein Richter gab an, er arbeite bereits seit zwei Jahren eng mit der Antragstellerin zusammen, tausche sich häufig fachlich mit ihr aus und man vertrete sich gegenseitig. Eine andere Kollegin verwies darauf, dass die Antragstellerin sie aktuell in Zivilsachen vertrete, weshalb eine ausreichende Neutralität nicht gewahrt sei. Ein dritter Richter berichtete von einer rund zehnjährigen Zusammenarbeit, unzähligen gemeinsamen Mittagspausen und einem freundschaftlichen „Du“-Verhältnis. Schließlich erklärte sich auch der Direktor des Amtsgerichts für befangen, da er seit Beginn der Dienstzeit der Antragstellerin ihr Vorgesetzter ist und man ebenfalls zahlreiche Mittagspausen miteinander verbracht sowie einen engen kollegialen Austausch gepflegt habe. Die Antragstellerin selbst erhob gegen keine dieser Selbstablehnungen Einwände.
Nach der gesetzlichen Regelung ist ein Ablehnungsgesuch (oder eine Selbstablehnung) begründet, wenn ein objektiver Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Maßgeblich ist dabei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, ob aus Sicht einer vernünftigen Partei bei Würdigung aller Umstände Anlass besteht, an der Neutralität des Richters zu zweifeln. Es kommen nur objektive Gründe in Betracht, die aus Sicht einer verständigen Prozesspartei berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit des Richters aufkommen lassen. Solche Zweifel können sich insbesondere aus besonderen Beziehungen des Richters zu den Verfahrensbeteiligten ergeben. Allerdings reicht eine normale berufliche Bekanntschaft unter Kollegen dafür nicht aus – nach der Rechtsprechung ist ein Kollegialitätsverhältnis nur dann ein Ablehnungsgrund, wenn eine sehr enge berufliche Zusammenarbeit besteht. Entscheidend ist also der Grad der persönlichen Nähe oder Verflechtung im Arbeitsalltag.
Vorliegend bejahte das OLG Karlsruhe eine Befangenheit aller am AG Ettlingen verbleibenden Richter. In einem kleinen Gericht mit konstantem Personalkreis – hier lediglich fünf Personen – besteht typischerweise eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen sämtlichen Richtern. Genau dies bestätigten die Kollegen durch ihre Angaben (enge fachliche Zusammenarbeit, private Umgangsformen etc.). Aus Sicht einer verständigen Verfahrenspartei ist es nachvollziehbar, an der Unvoreingenommenheit der Richter zu zweifeln, wenn diese über die Scheidung einer langjährigen Kollegin entscheiden müssten. Das OLG betonte, dass es für die Befangenheitsbefürchtung nicht auf eine tatsächliche Voreingenommenheit ankommt – schon der böse Schein mangelnder Neutralität soll vermieden werden. Folglich erklärte der Senat die Selbstablehnungen sämtlicher Richter des AG Ettlingen für begründet.
Gerichtsstandsbestimmung durch das OLG Karlsruhe
War damit die Befangenheit aller erstinstanzlichen Richter festgestellt, stellte sich die Frage, wie das Verfahren fortgeführt werden kann, wenn das an sich zuständige Gericht keine unbefangenen Richter mehr hat. Die ZPO enthält für solche Fälle eine Vorschrift: Nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (i.V.m. § 113 Abs. 1 FamFG) bestimmt das nächsthöhere Gericht den zuständigen Gerichtsstand, wenn das ursprünglich zuständige Gericht in einer Sache rechtlich oder tatsächlich verhindert ist. Hier war das Amtsgericht Ettlingen aufgrund der Befangenheit aller Richter rechtlich verhindert, weiter über die Scheidung zu verhandeln. Zuständig für die Bestimmung eines anderen Gerichts ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO das Gericht der nächsthöheren Instanz – in Familiensachen also das Oberlandesgericht. Das OLG Karlsruhe konnte folglich durch Beschluss festlegen, welches andere Amtsgericht die Scheidungssache übernehmen soll.
Voraussetzung für eine solche Gerichtsstandsbestimmung ist in der Regel ein entsprechender Antrag (Gesuch) einer Partei (§ 37 ZPO). Diesen hatte die Richterin bereits gestellt, indem sie im Scheidungsverfahren mitteilte, keine Einwände gegen die Selbstablehnungen zu haben und um Bestimmung eines zuständigen Gerichts bat. Der Ehemann äußerte sich dazu nicht, erhob aber auch keinen Widerspruch. Somit konnte der Senat übergehen, einen neuen Gerichtsstand zu bestimmen.
Bei der Auswahl des neuen Gerichts orientierte sich das OLG an den Grundsätzen der Zweckmäßigkeit und Prozessökonomie sowie an der gesetzlich vorgesehenen Zuständigkeitsordnung im FamFG. Nach § 122 FamFG richtet sich die örtliche Zuständigkeit in Ehesachen normalerweise primär nach dem letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten (Nr. 3) und hilfsweise nach dem Wohnsitz des Antragsgegners (Nr. 4) – beide Kriterien führten hier zum AG Ettlingen, das jedoch ausfiel. Daher wählte das OLG entsprechend § 122 Nr. 5 FamFG das Amtsgericht, in dessen Bezirk die Antragstellerin (die Richterin) nun ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, als neuen Gerichtsstand. Die Antragstellerin war zwischenzeitlich umgezogen; ihr neuer Wohnsitz liegt im Bezirk des Amtsgerichts Karlsruhe-Durlach. Folglich bestimmte der Senat das AG Karlsruhe-Durlach als zuständiges Gericht für die weitere Bearbeitung des Scheidungsverfahrens. Diese Lösung entsprach der gesetzlichen Auffangregel und erwies sich zugleich als praktikabel und prozessökonomisch sinnvoll.
Praxis
Der Beschluss des OLG Karlsruhe verdeutlicht, wie in Ausnahmefällen vorzugehen ist, in denen ein gesamtes Gericht wegen Befangenheit von einem Verfahren ausgeschlossen ist. Insbesondere an kleinen Gerichten kann eine Scheidung „unter Kollegen“ problematisch sein, wenn die beruflichen und persönlichen Kontakte so eng sind, dass die Unparteilichkeit in Zweifel steht. In solchen Konstellationen sollten die betroffenen Richter nicht zögern, Selbstablehnung nach § 48 ZPO zu erklären, um den Anschein von Befangenheit zu vermeiden. Sodann ist das Verfahren an das nächsthöhere Gericht abzugeben (§ 45 Abs. 3 ZPO), damit dieses einen anderen Gerichtsstand bestimmt. Die Bestimmung des Ausweichgerichts orientiert sich an den bestehenden Zuständigkeitsregeln – im Scheidungsrecht typischerweise am Wohnsitz eines der Beteiligten – und an Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit.
Für die Praxis bedeutet dies: Trifft ein Gericht auf einen Ausschluss aller eigenen Richter, muss unverzüglich das Oberlandesgericht eingeschaltet werden. Dieses wird in der Regel dem Gerichtsstandsbestimmungsantrag stattgeben und ein geeignetes Gericht benennen, das das Verfahren übernimmt. Im vorliegenden Fall entschied sich das OLG für den Wohnsitz der antragstellenden Richterin als neuen Gerichtsstand – eine Wahl, die gesetzeskonform und pragmatisch zugleich ist. Juristische Praktiker sollten dieses Vorgehen kennen: Es gewährleistet die Objektivität des Verfahrens und vermeidet den „bösen Schein“ einer möglichen Voreingenommenheit der Justiz.