Ordnungsruf für Zwischenruf „Sie sind ein Antisemit“ war rechtmäßig

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart hat am 30.04.2021 zum Aktenzeichen 1 GR 5/20 einen Antrag des Landtagsabgeordneten Daniel Rottmann (AfD-Fraktion) gegen die Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg zurückgewiesen. Der Antragsteller hatte mit seinem Antrag geltend gemacht, durch einen Ordnungsruf für den Zuruf „Sie sind ein Antisemit!“ der stellvertretenden Landtagspräsidentin in der 101. Sitzung des Landtages am 17.10.2019 in seinem Abgeordnetenrecht verletzt worden zu sein.

Aus der Pressemitteilung des VerfGH BW vom 30.04.2021 ergibt sich:

Sachverhalt

In der 101. Sitzung des Landtags am 17. Oktober 2019 fand auf Antrag der Fraktion der AfD eine aktuelle Debatte zum Thema „Schutz der Religionsgemeinschaften in Baden-Württemberg vor Terror-Anschlägen! Die Ereignisse in Halle und Limburg werfen auch Sicherheitsbedenken in Baden-Württemberg auf.“ statt. Nach der Eröffnungsrede des Fraktionsvorsitzenden der AfD wurde dem Abgeordneten Sckerl (Fraktion der GRÜNEN) das Rederecht erteilt. Während des Redebeitrags des Abgeordneten Sckerl rief der Antragsteller dazwischen: „Sie sind ein Antisemit!“ Hieraufhin erteilte die die Landtagssitzung leitende stellvertretende Präsidentin dem Antragsteller einen Ordnungsruf.

Der Ablauf der Landtagssitzung im Zusammenhang mit dem Redebeitrag des Abgeordneten Sckerl und dem Zwischenruf des Antragstellers ergibt sich im Einzelnen aus dem Auszug des Protokolls der Landtagssitzung vom 17. Oktober 2019, der dieser Pressemitteilung als Anhang beigefügt ist.

Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs

Der Verfassungsgerichtshof hat den Antrag zurückgewiesen.

Der Antrag ist zulässig. Insbesondere richtet er sich gegen die richtige Antragsgegnerin. Die Stellvertreterin der Landtagspräsidentin handelt bei der Leitung der Landtagssitzung als „amtierende Präsidentin“ und mithin an Stelle der Präsidentin.

Der Antrag ist unbegründet. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die stellvertretende Landtagspräsidentin dem Antragsteller für dessen Zwischenruf „Sie sind ein Antisemit“ einen Ordnungsruf erteilt hat.

Der Landtagspräsidentin steht bei der Leitung von Sitzungen hinsichtlich der Anwendung von Ordnungsmaßnahmen ein vom Verfassungsgerichtshof zu respektierender Beurteilungsspielraum zu.

Der Bezeichnung einer Person als „Antisemiten“ kommt – gerade auch im politischen Raum – eine stark abwertende und ehrenrührige Bedeutung zu. Zwar kann der im Landtag gegenüber einem Abgeordneten erhobene Vorwurf, ein „Antisemit“ zu sein, im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung von dem parlamentarischen Rederecht gedeckt sein. Allerdings muss dieser Vorwurf hierzu in einen nachvollziehbaren Sachzusammenhang gestellt werden. Fehlt es an einem hinreichenden Anknüpfungspunkt für diese Bezeichnung, stellt sie sich als bloße Herabwürdigung dar, der durch parlamentarische Ordnungsmaßnahmen begegnet werden kann.

Die vom Antragsteller im Wege des Zwischenrufs gegenüber dem Abgeordneten Sckerl getroffene Äußerung „Sie sind ein Antisemit“ erfolgte ohne weitere Ausführungen und ohne hierfür erkennbare Anhaltspunkte. Aus der maßgeblichen Sicht eines unbefangenen Zuhörers bestand daher kein Anlass, von einer anderen Bedeutung des Zwischenrufs als der herabwürdigenden Zuschreibung einer diskriminierenden Gesinnung gegenüber Juden auszugehen. Auch wenn die zu diesem Zeitpunkt geführte aktuelle Debatte einen inhaltlichen Bezug zum Thema Antisemitismus aufwies und der Abgeordnete Sckerl in diesem Rahmen erhebliche Vorwürfe gegenüber der AfD vorbrachte, stellt dies den Zwischenruf des Antragstellers nicht in einen Kontext, der den personalisierten Vorwurf des Antisemitismus zu erklären vermag. Weder aus dem Sachzusammenhang noch aus der Äußerung des Antragstellers wurde für den Zuhörer auch nur ansatzweise ersichtlich, auf welche Umstände der Antragsteller seine stark abwertende Zuschreibung einer antisemitischen Gesinnung stützt.

Der Antragsteller kann sich auch nicht darauf berufen, dass seine Äußerung zulässigerweise erfolgt sei, um den Angriff des Abgeordneten Sckerl „gegen die Juden in der AfD und gegen die AfD insgesamt“ zurückzuweisen. Im Gegenteil bringt der Antragsteller damit zum Ausdruck, dass es ihm bei der Bezeichnung des Abgeordneten Sckerl als Antisemiten nicht um die Äußerung einer politischen Auffassung, sondern im Wesentlichen um die Brüskierung des Abgeordneten ging, um dessen Angriff auf die AfD zurückzuweisen.

Anhang

Auszug aus dem Protokoll der Landtagssitzung vom 17. Oktober 2019:

Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: […]

Erklären Sie uns, warum Sie nicht in der Lage sind, Rechtsextremisten, radikale Antisemiten in Ihrer Partei auszuschließen und entsprechend mit ihnen umzugehen! Erklären Sie uns doch, warum die AfD ständig versucht, das politische Koordinatensystem nach rechts außen zu schieben,

(Unruhe bei der AfD)

mittlerweile auch mit Handlungen. Es waren Abgeordnete Ihrer Fraktion, die in Chemnitz vor Jahresfrist mit Hooligans, mit Rechtsextremisten marschiert sind

(Abg. Rüdiger Klos AfD: Quatsch! – Zuruf: Linksradikale!)

und anschließend gepostet haben: „Wir sind stolz, am Tag der Wende in Deutschland dabei gewesen zu sein.“ Herausgekommen ist jetzt ein Verfahren gegen Rechtsterroristen in Chemnitz wegen versuchter Anschläge auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Mit solchen Leuten paktieren Sie. Das ist eine Schande, Herr Gögel!

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP – Abg. Thomas Axel Palka AfD: Sie sind eine Schande für die Grünen!)

Oder auch Ihre Verantwortung für den anwachsenden Antisemitismus. Sie dulden inzwischen reihenweise Mitglieder, die sich permanent Verschwörungsmythen bedienen, die mit antisemitischen Stereotypen behaftet sind oder einen eindeutigen antisemitischen Kern haben.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Sie unterstützen die Mörder in Palästina!)

Ihre Resonanzkammern in den sozialen Medien sind täglich voll davon. Das kann man dort nachlesen. Oder was will uns etwa der Abgeordnete Räpple mit einem inzwischen gelöschten Facebook-Beitrag sagen, in dem er spekuliert hat, der Anschlag von Halle könne auch eine Aktion von Geheimdiensten sein?

(Lachen des Abg. Andreas Schwarz GRÜNE – Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜNE: Wo ist denn der Herr Räpple?)

Es fehlte nur die Nennung des Mossads, so wie es bei vielen antisemitischen Verschwörungstheorien üblich ist.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Das ist Ihre Fantasie!)

Einen versuchten Mordanschlag auf Juden und einen zweifachen Mord öffentlich als inszeniert darzustellen ist, meine Damen und Herren, eine klassische Methode des Antisemitismus. Und dieser Mann sitzt immer noch in Ihrer Fraktion!

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeordneten der CDU – Zuruf von der SPD: Ein unglaublicher Vorgang!)

Oder was ist es anderes als Antisemitismus, wenn ein sächsischer Landtagsabgeordneter der AfD postet – Zitat –: „Was ist schlimmer – eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche?“, um dann zu behaupten, es liege nicht einmal der Versuch eines Tötungsdelikts gegen die Besucher der Synagoge vor?

Oder was ist es anderes, wenn der Bundestagsabgeordnete Brandner, immerhin derzeit noch Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestags, einen Twitter-Beitrag ausdrücklich unterstützt, in dem die Solidaritätsaktionen vor Synagogen als – Zitat – „Herumlungern“ diffamiert werden?

Herr Gögel, die Kette ließe sich beliebig fortsetzen.

(Abg. Rüdiger Klos AfD: Dann machen Sie es doch!)

Deshalb ist die vorgetragene Ablehnung des Antisemitismus durch Sie und die AfD vor diesem Hintergrund völlig unglaubwürdig.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP – Abg. Bernd Gögel AfD: Kommen Sie doch einmal zum Inhalt der Debatte! – Zuruf des Abg. Udo Stein AfD)

Auch Ihre AfD-Gruppe „Juden in der AfD“ konnte und kann daran nichts ändern.

(Abg. Bernd Gögel AfD: Ach, gibt es zwei Klassen? – Abg. Carola Wolle AfD: Es gibt Gute und Schlechte, nicht wahr? – Weitere Zurufe von der AfD)

Ich erinnere an die Stellungnahme des Zentralrats der Juden und 16 weiterer jüdischer Organisationen, die sich von dieser Gruppe klar distanziert haben und ebenso klar festgestellt haben, dass die AfD keine Partei für Juden, dass die AfD hingegen eine Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland ist. Das hat der Zentralrat der Juden festgestellt, und dem ist nichts hinzuzufügen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP – Abg. Daniel Rottmann AfD: Sie sind ein Antisemit! – Oh-Rufe – Weitere Zurufe – Unruhe)

Stellv. Präsidentin Sabine Kurtz: Es gibt momentan zu viele Zwischenrufe. Ich bitte um mehr Disziplin!

(Abg. Winfried Mack CDU: Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen! Weiter!)

Herr Abg. Gögel möchte eine Frage stellen. Möchten Sie sie zulassen?

(Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜNE zur AfD: Sie kuscheln mit Gedeon!)

Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Nein.

(Abg. Anton Baron AfD: Herr Sckerl, was ist denn da los? – Abg. Carola Wolle AfD: Die Aktuelle Debatte behandelt das Thema Sicherheit! – Weitere Zurufe – Lebhafte Unruhe)

Last, but not least – man muss es immer wieder benennen –:

Der ständige Gast Ihrer Landtagsfraktion, das AfD-Parteimitglied Wolfgang Gedeon, darf nach einem Urteil des Berliner Landgerichts als Holocaustleugner bezeichnet werden.

(Abg. Carola Wolle AfD: Die Aktuelle Debatte behandelt das Thema Sicherheit!)

Stellv. Präsidentin Sabine Kurtz: Entschuldigung, Herr Sckerl. Einen kleinen Moment, bitte. Wir halten auch die Redezeit kurz an. Es gibt einen Ordnungsruf für den Zuruf „Sie sind ein Antisemit!“.

(Beifall bei den Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP – Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Ein absoluter Witz ist das!)

– Die Redezeit ist weiterhin angehalten. Sie, Herr Abg. Dr. Fiechtner, haben sich angemeldet und wollen nachher selbst von hier vorn reden.

(Abg. Anton Baron AfD: Frau Kurtz, wie oft wurde Herr Gedeon als Antisemit bezeichnet? Zweierlei Maß, oder was? Das kann doch nicht sein! – Abg. Thomas Axel Palka AfD: Das ist parlamentarische Gepflogenheit, Frau Präsidentin!)

– Es reicht jetzt mit den Zwischenrufen. Ich bitte jetzt um etwas mehr Disziplin und Ruhe. Die persönliche Zuordnung eines solchen Begriffs zieht einen Ordnungsruf nach sich.

[…]