Organstreitverfahren des Landtagsabgeordneten Fiechtner wegen Ordnungsmaßnahmen teilweise erfolgreich: Ausschluss aus laufender Sitzung war rechtswidrig

Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg in Stuttgart hat am 30.04.2021 zum Aktenzeichen 1 GR 82/20 einem Antrag des fraktionslosen Landtagsabgeordneten Dr. Heinrich Fiechtner gegen den Landtag und die Landtagspräsidentin teilweise stattgegeben. Der Antragsteller hatte mit seinem Antrag geltend gemacht, in der 122. Sitzung des Landtags am 24. Juni 2020 durch seinen Ausschluss aus der laufenden Sitzung sowie für fünf weitere Sitzungstage in seinem Abgeordnetenrecht verletzt worden zu sein.

Aus der Pressemitteilung des VerfGH BW vom 30.04.2021 ergibt sich:

Hinsichtlich des Ausschlusses aus der laufenden Sitzung hat der Verfassungsgerichtshof dem Antragsteller Recht gegeben. Hinsichtlich des Ausschlusses für fünf weitere Sitzungstage hatte der Antrag keinen Erfolg.

Sachverhalt

In der 122. Sitzung des Landtags am 24. Juni 2020 fand anlässlich der Ausschreitungen in der Stuttgarter Innenstadt in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 unter Tagesordnungspunkt 2 eine aktuelle Debatte zum Thema „Gewaltexzesse in Stuttgart – Solidarität mit unserer Polizei“ statt, in deren Verlauf auch der Antragsteller das Wort erhielt. Nachdem ihm die Landtagspräsidentin einen Ordnungsruf erteilt hatte, setzte der Antragsteller seine Rede mit den Worten fort:

„Verlassen Sie den Plenarsaal, begeben Sie sich umgehend auf die nahegelegene Königstraße und sammeln Sie die Scherben Ihrer Politik auf. Und nehmen Sie am besten Frau Aras gleich mit.“ (s. Plenarprotokoll des Landtags 16/122 S. 7517; abrufbar auf der Internetseite des Landtags) Hierauf schloss die Landtagspräsidentin den Antragsteller aus der laufenden Sitzung aus. Der Antragsteller weigerte sich den Sitzungssaal zu verlassen und wurde schließlich von zwei Polizeibeamten hinausgetragen. Daraufhin schloss die Landtagspräsidentin den Antragsteller im Einvernehmen mit dem Präsidium für weitere fünf Sitzungstage von der Sitzung aus.

Der Antragsteller ist der Auffassung, dass diese Maßnahmen seine Rechte aus Art. 27 Abs. 3 der Landesverfassung (LV) verletzen. Sein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem er die Teilnahme an allen folgenden Landtagssitzungen erreichen wollte, wurde vom Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 6. Juli 2020 und Urteilen vom 21. Juli 2020 zurückgewiesen.

Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs

Das Organstreitverfahren hat teilweise Erfolg.

Der Antrag ist im Wesentlichen zulässig. Allerdings ist der Landtag nur insoweit richtiger Antragsgegner, als das Verfahren den Ausschluss für fünf weitere Sitzungstage zum Gegenstand hat.

Hinsichtlich des Ausschlusses aus der laufenden Sitzung ist der Antrag auch begründet. Im Übrigen ist er unbegründet.

  1. Der Ausschluss des Antragstellers aus der laufenden Sitzung nach § 92 Abs. 1 Satz 1 der Geschäftsordnung des Landtags (LTGO) im Anschluss an die Äußerung „Verlassen Sie diesen Plenarsaal, begeben Sie sich umgehend auf die naheliegende Königstraße und sammeln Sie die Scherben Ihrer Politik auf. Und nehmen Sie am besten Frau Aras gleich mit.“ ist bereits formell verfassungswidrig und verletzt daher das Abgeordnetenrecht des Antragstellers aus Art. 27 Abs. 3 LV.

Es fehlt an einer hinreichenden Begründung der Ordnungsmaßnahme. Die Landtagspräsidentin hat weder in der laufenden Sitzung schlagwortartig noch nachträglich überhaupt begründet, warum das Verhalten des Antragstellers sie zu dessen Ausschluss aus der laufenden Sitzung veranlasst hat. Damit bleibt unklar, wie sie die Aussage des Antragstellers verstanden hat und was letztlich der Grund für den Sitzungsausschluss war.

Eine zumindest schlagwortartige Begründung war auch nicht entbehrlich. Der Grund für den Sitzungsausschluss war nicht offensichtlich. Die Äußerung des Antragstellers, die zum Sitzungsausschluss geführt hat, ist mehrdeutig und lässt verschiedene Verständnismöglichkeiten zu.

  1. Der Ausschluss des Antragstellers für fünf weitere Sitzungstage ist dagegen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach § 92 Abs. 2 Satz 1 LTGO kann bei besonders schweren Ordnungsverletzungen die Mindestsanktion des Sitzungsausschlusses für weitere drei Sitzungstage, der die automatische Folge für das Nichtverlassen des Sitzungssaals nach einem Ausschluss aus der laufenden Sitzung ist (§ 92 Abs. 1 Satz 4 LTGO), auf bis zu zehn Sitzungstage verschärft werden. Diese Regelung ist verfassungsgemäß und wurde im konkreten Fall auch verfassungsgemäß angewendet.
  2. a) In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist der Sitzungsausschluss für fünf Sitzungstage gemäß § 92 Abs. 2 LTGO nicht zu beanstanden. Insbesondere hat die Landtagspräsidentin die Ordnungsmaßnahme im Einvernehmen mit dem Präsidium beschlossen und sie gegenüber dem Antragsteller hinreichend begründet.
  3. b) Der den automatischen Sitzungsausschluss um zwei Sitzungstage auf insgesamt fünf Sitzungstage verlängernde Sitzungsausschluss ist auch in der Sache verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen für den automatischen Sitzungsausschluss nach § 92 Abs. 1 Satz 4 HS 1 LTGO lagen vor. Der Antragsteller war von der Landtagspräsidentin aus der laufenden Sitzung ausgeschlossen worden. Trotz entsprechender Aufforderung verließ er den Sitzungssaal nicht. Daraufhin wurde die Sitzung unterbrochen, so dass die zwingende Folge des § 92 Abs. 1 Satz 4 HS 1 LTGO eintrat.

Dass der vorangegangene Ausschluss aus der laufenden Sitzung verfassungswidrig war (s.o. unter 1.), ist dabei ohne Belang, da es sich bei dem automatischen Ausschluss um eine eigenständige Sanktion für ein neues Fehlverhalten – das Nichtverlassen der Sitzung nach Sitzungsausschluss – handelt.

Die Einschätzung der Landtagspräsidentin, dass das Verhalten des Antragstellers die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 LTGO für eine Verlängerung des automatischen Sitzungsausschlusses erfüllt, ist nicht zu beanstanden und hält sich im Rahmen des ihr zukommenden Beurteilungsspielraums. Der Antragsteller hat durch sein Verhalten nach dem Ausschluss aus der laufenden Sitzung jedenfalls in besonders schwerer Weise im Sinne des § 92 Abs. 2 Satz 1 LTGO gegen die Ordnung verstoßen.

Nicht nur hat er sich geweigert, dem Sitzungsausschluss Folge zu leisten und den Sitzungssaal zu verlassen, was für sich allein genommen schon zum Mindestausschluss von drei Sitzungstagen geführt hätte. Vielmehr mussten zur Durchsetzung der Verpflichtung, den Sitzungssaal zu verlassen, Beamte des Polizeivollzugsdienstes eingesetzt werden, wobei diese den Antragsteller nicht nur – wie in der Plenarsitzung am 29. April 2020 – aus dem Sitzungssaal hinausbegleiten, sondern unter Anwendung unmittelbaren Zwangs hinaustragen mussten. Mit diesem Verhalten hat der Antragsteller nicht nur die Autorität der sitzungsleitenden Landtagspräsidentin massiv infrage gestellt, sondern auch die Würde des Landtags erheblich beschädigt. Auch hat er in besonders schwerer Weise das Minimum an Disziplin und Selbstbeherrschung vermissen lassen, das von einem Abgeordneten im Interesse der Funktionsfähigkeit des Landtags bei der Verpflichtung zur sofortigen Befolgung des Ausschlusses eingefordert werden kann und muss.

Schließlich erscheint die Erhöhung der Mindestsanktion um zwei Tage auf insgesamt fünf Sitzungstage im Hinblick auf die Obergrenze von zehn Sitzungstagen nicht unangemessen.