Richter Müller im Organstreitverfahren der NPD nicht befangen

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 23. Juni 2021 zum Aktenzeichen 2 BvE 1/17 entschieden, dass Richter Müller in einem Organstreitverfahren der NPD nicht befangen ist.

Die Kundgabe politischer Meinungen, die ein Richter oder eine Richterin zu einer Zeit geäußert hat, als er oder sie noch nicht Mitglied des Bundesverfassungsgerichts war und daher den besonderen Anforderungen dieses Richteramts noch nicht Rechnung zu tragen hatte, rechtfertigt grundsätzlich eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit nicht. Den Bestimmungen über die Wahl von Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts (Art. 94 Abs. 1 GG) liegt als selbstverständlich, sogar als erwünscht, zugrunde, dass auch Personen, die als Repräsentanten von Parteien politische Funktionen in den Parlamenten ausgeübt oder politische Ämter in den Regierungen bekleidet haben, zu Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts gewählt und ernannt werden können, um ihre politischen Erfahrungen für die Verfassungsrechtsprechung fruchtbar zu machen. Damit geht die Erwartung des Verfassungs- und Gesetzgebers einher, dass Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts über jene Unabhängigkeit und Distanz verfügen, die sie befähigen, in Unvoreingenommenheit und Objektivität zu entscheiden und dass sie ihre Rolle unabhängig von früheren parteipolitischen Auseinandersetzungen ausüben werden. Wenn ein Richter oder eine Richterin zuvor Aufgaben politischer Gestaltung zu erfüllen hatte und in diesem Zusammenhang am Wettstreit unterschiedlicher politischer Auffassungen teilnahm, genügt dies für sich genommen nicht, um die Besorgnis der Befangenheit zu begründen.

Zweifel an der Objektivität eines Richters oder einer Richterin des Bundesverfassungsgerichts können allerdings berechtigt sein, wenn sich aufdrängt, dass ein innerer Zusammenhang zwischen einer – mit Engagement geäußerten – politischen Überzeugung und seiner oder ihrer Rechtsauffassung besteht oder wenn frühere Forderungen des Richters oder der Richterin nach einer Rechtsänderung in einer konkreten Beziehung zu einem während der Amtszeit beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren stehen. Entscheidend ist, dass das jeweilige Verhalten den Schluss zulässt, dass der Richter oder die Richterin einer der eigenen Ansicht widersprechenden Rechtsauffassung nicht mehr frei und unvoreingenommen gegenübersteht, sondern festgelegt ist. Dabei kann der Eindruck der Vorfestlegung aus der maßgeblichen Sicht der Verfahrensbeteiligten umso eher entstehen, je enger der zeitliche Zusammenhang mit einem solchen Verfahren ist. Je länger hingegen eine politische Äußerung zurückliegt, desto weniger kann sie die Besorgnis der Befangenheit begründen. Das Zeitmoment ist allerdings für die Beurteilung im Rahmen von § 19 BVerfGG nicht allein maßgeblich. Erforderlich ist stets eine Gesamtwürdigung von Inhalt, Form und Rahmen (Ort, Adressatenkreis) der jeweiligen Äußerung sowie dem sachlichen und zeitlichen Bezug zu einem anhängigen Verfahren.

Ausgehend von diesem Maßstab ist nicht von einer Besorgnis der Befangenheit des Richters Müller auszugehen. Die benannten Äußerungen des Richters Müller bieten bei vernünftiger Würdigung keinen Anlass, an seiner Unvoreingenommenheit zu zweifeln.

Soweit die Antragstellerin auf einen Artikel im Handelsblatt vom 29. Januar 2005 verweist, in dem sich Richter Müller in seiner damaligen Funktion als saarländischer Ministerpräsident dafür ausgesprochen habe, die rechtlichen Möglichkeiten eines Ausschlusses der NPD von staatlicher Finanzierung zu prüfen, vermag dies die Besorgnis der Befangenheit nicht zu begründen. Denn mit den dort genannten Aussagen geht gerade nicht einher, dass Richter Müller eine Verfassungsänderung im Sinne von Art. 21 Abs. 3 Satz 1 GG für mit den Rechten der Antragstellerin aus Art. 21 Abs. 1 GG vereinbar hält, zumal diese Norm erst über zwölf Jahre nach den Äußerungen mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 21) vom 13. Juli 2017 eingeführt wurde. Vielmehr plädierte er ausweislich des Artikels dafür, zu überprüfen, ob ein Ausschluss der Antragstellerin von der staatlichen Finanzierung nach der damaligen Rechtslage in Betracht komme. Etwas Anderes folgt auch nicht aus der von der Antragstellerin im Schriftsatz vom 12. Januar 2021 vom Kontext losgelöst zitierten Passage. Dabei handelt es sich nicht um ein wörtliches Zitat, sondern um eine journalistische Bewertung. Aus dem nachfolgenden Text ergibt sich, dass Richter Müller gefordert habe, „zu prüfen, ob es rechtlich möglich sei, dass verfassungsfeindliche Parteien keine staatliche Finanzierung erhielten“. Damit hat er aber keine Rechtsauffassung zu Art. 21 Abs. 3 Satz 1 GG in Bezug auf die Rechte der Antragstellerin geäußert, sondern lediglich eine rechtliche Prüfung angeregt. Soweit Richter Müller als saarländischer Ministerpräsident ausweislich des Artikels die Antragstellerin als Partei, die „unstreitig verfassungsfeindliche Ziele“ verfolge, bezeichnet hat, liegt darin offensichtlich keine juristische Aussage über die Vereinbarkeit der tatbestandlichen Voraussetzungen des erst wesentlich später in Kraft getretenen Art. 21 Abs. 3 Satz 1 GG mit den Rechten der Antragstellerin aus Art. 21 Abs. 1 GG, sondern eine politische Bewertung.

Auch die auf ZEIT ONLINE behauptete Zustimmung des damaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes zu einem Verbotsantrag gegen die Antragstellerin kann die Besorgnis der Befangenheit des Richters Müller nicht begründen. Es handelt sich hierbei um eine Äußerung aus dem Jahr 2000 im Vorfeld des ersten Verbotsantrags gegen die Antragstellerin, den Richter Müller als saarländischer Ministerpräsident im Ergebnis nicht mitgetragen, sondern im Bundesrat abgelehnt hat. Eine Festlegung hinsichtlich des Ergebnisses des anhängigen Verfahrens über die Verletzung von Rechten der Antragstellerin durch Art. 21 Abs. 3 Satz 1 GG ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar.

Bei der ausweislich des vorgelegten taz-Artikels Ende 2000 in der Berliner Zeitung getätigten Äußerung von Richter Müller in seiner damaligen Funktion als Ministerpräsident des Saarlandes, er finde das Gedankengut der NPD „Ekel erregend“, handelt es sich um ein Werturteil im politischen Meinungskampf. Damit hat er zwar eine deutliche Abneigung gegenüber den Positionen der Antragstellerin zum Ausdruck gebracht. Zeitlich weit zurückliegende Äußerungen von Sympathie, Antipathie oder Gleichgültigkeit eines Richters oder einer Richterin gegenüber Verfahrensbeteiligten sind jedoch keine zuverlässigen Anzeichen dafür, dass der- oder diejenige nicht pflichtgemäß ohne Ansehen der Person entscheiden wird. Eine Besorgnis der Befangenheit ist hierdurch regelmäßig nicht begründet. Auch insoweit kann der Äußerung eine Festlegung hinsichtlich der Verletzung von Rechten der Antragstellerin durch die Einführung von Art. 21 Abs. 3 Satz 1 GG nicht entnommen werden.

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass frühere Stellungnahmen im Rahmen der Wahrnehmung politischer Ämter nur dann eine Befangenheit besorgen lassen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die befürchten lassen, dass der Richter oder die Richterin auch in dem veränderten institutionellen Rahmen, in den er oder sie als Richter oder Richterin des Bundesverfassungsgerichts gestellt ist, nicht unvoreingenommen entscheiden wird. Solche Umstände sind vorliegend hinsichtlich der bereits viele Jahre zurückliegenden Äußerungen des Richters Müller nicht ersichtlich. Insbesondere können seine Äußerungen nicht als Verlangen einer Rechtsänderung aufgefasst werden, die in einer konkreten Beziehung zu dem vorliegenden Organstreit stehen.

Die Einholung der von der Antragstellerin unter dem 12. Januar 2021 beantragten erneuten dienstlichen Stellungnahme war nicht notwendig.

Ein auf eine etwaige Wahrnehmung der Berichterstatterfunktion gestütztes Ablehnungsgesuch gegen den Richter Müller wäre von vornherein offensichtlich unzulässig, sodass es hierzu schon deshalb keiner weiteren dienstlichen Stellungnahme bedurfte. Ein abgelehnter Richter ist bis zur Entscheidung über das gegen ihn gerichtete Ablehnungsgesuch an der weiteren Mitwirkung am Verfahren nicht gehindert und erst danach – mit ex-nunc-Wirkung – vom weiteren Verfahren ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund ist schon nicht zu erkennen, dass hier ein Tätigwerden in der Sache zu beanstanden wäre. Jedenfalls bleibt es dem Senat unbenommen, abweichend von der Einschätzung des Berichterstatters oder der Berichterstatterin zu entscheiden. Auch deshalb ist nicht ersichtlich, inwieweit aus der weiteren Wahrnehmung der Berichterstatterfunktion vorliegend die Besorgnis der Befangenheit mit Blick auf die in der Hauptsache zu treffende Entscheidung folgen sollte.