Überlange Untersuchungshaft wegen Justizüberlastung ist verfassungswidrig

16. April 2020 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 01.04.2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 225/20 entschieden, dass eine überlange Untersuchungshaft mit der Begründung der Überlastung der Justiz verfassungswidrig ist.

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde, die er mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden hat, gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 4. Februar 2019 – zunächst aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts München vom selben Tag – in Untersuchungshaft. Am 22. Juli 2019 erhob die Staatsanwaltschaft München II Anklage unter anderem gegen den Beschwerdeführer zum Landgericht München II. Am 15. Oktober 2019 erließ die – wegen einer heranwachsenden Mitangeklagten zuständige – Jugendkammer auf Grundlage der Anklageschrift vom 22. Juli 2019 einen neuen Haftbefehl, der dem Beschwerdeführer am 23. Oktober 2019 eröffnet wurde. Hiernach wird dem Beschwerdeführer unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit mittäterschaftlich begangenem unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, räuberische Erpressung und gewerbsmäßiges unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in drei Fällen zur Last gelegt. Der Beschwerdeführer soll insgesamt 1,3 Kilogramm Marihuana gewinnbringend verkauft und rund 2 Kilogramm Kokaingemisch überwiegend zur gewinnbringenden Weiterveräußerung aufbewahrt haben. Zudem soll der Beschwerdeführer einen anderweitig Verfolgten bedroht haben, um Schulden aus einem Betäubungsmittelgeschäft einzutreiben. Der Haftbefehl nimmt den Haftgrund der Fluchtgefahr an.

Im Anschluss an die Eröffnung des neuen Haftbefehls fand am 23. Oktober 2019 ein Erörterungsgespräch in Anwesenheit der Berufsrichter der Jugendkammer, des sachbearbeitenden Staatsanwalts sowie eines der beiden Verteidiger des Beschwerdeführers statt. Ausweislich des von der Kammer erstellten Vermerks teilte der Verteidiger des Beschwerdeführers mit, dass der Beschwerdeführer die angeklagten Taten mit Ausnahme der räuberischen Erpressung einräumen würde. Der Staatsanwalt wies darauf hin, dass selbst bei einer Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) eine Freiheitsstrafe ohne Vorwegvollzug aufgrund der vorliegenden Mengen an Betäubungsmitteln wohl nicht denkbar sei. Die Vorsitzende erläuterte, dass je nach Verhalten des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb bis siebeneinhalb Jahren vorstellbar wäre. Der Staatsanwalt und der Verteidiger erklärten, dass ein solcher Strafrahmen annehmbar wäre. Der Verteidiger wies darauf hin, dass dies nur vorbehaltlich einer Rücksprache mit dem Beschwerdeführer und dessen weiterem Verteidiger gelte. Als mögliche Hauptverhandlungstermine wurden in dem Erörterungsgespräch der 20. und 23. Dezember 2019, der 20. und 28. Januar 2020 und der 16. und 17. März 2020 angedacht. Andere Termine seien aufgrund der terminlichen Auslastung der Verteidigung und der Kammer nicht möglich.

Mit Beschluss vom 20. November 2019 ließ die Jugendkammer die Anklage zur Hauptverhandlung zu und ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Sie bestimmte Termine zur Hauptverhandlung für den 20. und 23. Dezember 2019 und lud hierfür 14 Zeugen und Sachverständige.

Die Hauptverhandlung begann am 20. Dezember 2019. Der Beschwerdeführer äußerte sich zu seinen persönlichen Verhältnissen. Zum Tatvorwurf befragt, räumte er lediglich den Besitz der 2 Kilogramm Kokaingemisch, also lediglich eine der angeklagten Taten, ein; im Übrigen machte er keine Angaben. Daraufhin setzte die Jugendkammer das Verfahren aus und bestimmte fünf neue Termine zur Hauptverhandlung ab dem 16. Juli 2020.

Mit Verteidigerschriftsatz vom 23. Dezember 2019 legte der Beschwerdeführer Beschwerde gegen den Haftbefehl vom 15. Oktober 2019 ein, die er mit einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes begründete. Die Jugendkammer half der Beschwerde am 30. Dezember 2019 nicht ab.

In ihrem Vorlagebericht vom 7. Januar 2020 führte die Staatsanwaltschaft München II zu der Haftbeschwerde aus, dass das Verfahren gegen den Beschwerdeführer in den Hauptverhandlungsterminen vom 20. und 23. Dezember 2019 allein deshalb nicht mit Urteil habe abgeschlossen werden können, weil sich der Beschwerdeführer entgegen der Ankündigung im Verständigungsgespräch vom 23. Oktober 2019 nicht hinsichtlich zweier weiterer Taten geständig gezeigt habe. Hintergrund sei nach einer Stellungnahme der Verteidiger, dass dem Angeklagten bei dem in Aussicht gestellten Strafrahmen im Fall eines Geständnisses ein Vorwegvollzug vor einer etwaigen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt drohen würde, den der Beschwerdeführer auch als Untersuchungshaft „absitzen“ könne. Ein Geständnis würde ihm demgegenüber keinen Vorteil bringen.

Mit Verfügung vom 9. Januar 2020 legte die Generalstaatsanwaltschaft München die Akten dem Oberlandesgericht München zur Entscheidung über die Haftbeschwerde vor. Sie führte aus, dass ein eigener Antrag derzeit bewusst nicht gestellt werde, nachdem sich der Akte aktuell nicht entnehmen lasse, warum die Jugendkammer Ende Dezember 2019 erst einen Termin im Juli 2020 habe in Aussicht stellen können.

In einem handschriftlichen Vermerk vom 17. Januar 2020 führte die Vorsitzende der Jugendkammer aus, dass mit den Verfahrensbeteiligten keine Termine zu finden gewesen seien, da das Gericht aufgrund der Auslastung mit anderen Haftsachen nur wenige Termine habe anbieten können. Zwar seien in anderer Sache Termine weggefallen, jedoch könne einer der beiden Verteidiger des Beschwerdeführers die Termine am 17. Februar und am 2., 9. und 13. März 2020 nicht wahrnehmen. Der psychiatrische Sachverständige habe bis Mai 2020 keine Termine.

Durch – vorliegend angegriffenen – Beschluss vom 31. Januar 2020 verwarf das Oberlandesgericht München die Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts stellt sich die Fortdauer der Untersuchungshaft – trotz der voraussichtlich erst für Juli 2020 terminierten Hauptverhandlung – weiterhin als verhältnismäßig dar. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sei nicht verletzt, weil die zuletzt eingetretene Verzögerung auf der Verteidigungsstrategie des Beschwerdeführers beruhe.

Bis zur Hauptverhandlung am 20. Dezember 2019 sei das Verfahren sehr beschleunigt geführt worden. Die Staatsanwaltschaft habe noch vor dem vollständigen Abschluss der Ermittlungen Anklage erhoben. Es seien insoweit die Einholung einer Vielzahl von Gutachten – Blutalkohol-, Haar- und Wirkstoffgutachten sowie toxikologische, molekulargenetische und daktyloskopische Gutachten – und die Vernehmung zahlreicher Zeugen sowie Kontoauswertungen erforderlich gewesen. Aufgrund der Kontoauswertungen sei am 12. September 2019 ein erweiterter Arrestbeschluss erlassen worden.

Entgegen der Ansicht der Verteidigung sei eine frühere Verfahrenseröffnung nicht möglich gewesen, da zunächst die nach Anklageerhebung eingehenden Ermittlungsergebnisse zwingend hätten abgewartet werden müssen. Dies betreffe insbesondere die von der Verteidigung am 15. April 2019 beantragte psychiatrische Begutachtung auf die Voraussetzungen des § 64 StGB hin, die am 29. April 2019 in Auftrag gegeben worden sei. Der Sachverständige habe diese Begutachtung im Rahmen der auslastungsbedingt bei den erfahrenen psychiatrischen Sachverständigen üblichen und unvermeidlichen Bearbeitungszeit am 25. September 2019 abgeschlossen.

In Anbetracht der überdurchschnittlichen Komplexität des Verfahrens, das durch Ermittlungen gegen zahlreiche weitere Personen aus einem Verfahrenskomplex gekennzeichnet gewesen sei, sodass immer wieder Nachfragen und Abgleiche von Aussagen notwendig gewesen seien, halte sich der fünfmonatige Zeitraum zwischen Anklageerhebung und Beginn der Hauptverhandlung im Rahmen dessen, was vom Bundesverfassungsgericht für den Regelfall als zulässig erachtet werde. Dass möglicherweise früher Eröffnungsreife bestanden hätte, habe sich daher im Ergebnis nicht ausgewirkt. Offensichtlich habe die Kammer das Erörterungsgespräch am 23. Oktober 2019 abgewartet, um die Hauptverhandlung besser planen zu können, und habe sodann – nach Absprache der Termine – zugleich mit dem Eröffnungsbeschluss die Termine bestimmt.

Die Aussetzung der Hauptverhandlung am 20. Dezember 2019 sei allein dem Verteidigungsverhalten des Beschwerdeführers geschuldet. Durch seinen Verteidiger habe der Beschwerdeführer im Erörterungstermin eine geständige Einlassung hinsichtlich dreier der vier Anklagepunkte angekündigt. Dem Vermerk über das Erörterungsgespräch sei nicht zu entnehmen, dass das angekündigte Geständnis unter dem Vorbehalt der Rücksprache mit dem Angeklagten und dem weiteren Verteidiger gestanden habe. Der Vorbehalt beziehe sich vielmehr ersichtlich auf die angesprochenen Strafrahmen. Der Vermerk sei im unmittelbaren Anschluss beiden Verteidigern zugegangen. In den folgenden zwei Monaten bis zur Hauptverhandlung hätten die Verteidiger weder dem im Vermerk niedergelegten Inhalt des Gesprächs widersprochen noch angekündigt, dass entgegen der Zusage eine geständige Einlassung nicht erfolgen werde.

Den Verteidigern sei dabei bekannt gewesen, dass nicht nur die Kammer terminlich ausgelastet sei, sondern auch die Verteidiger selbst zeitlich derart ausgelastet seien, dass die Vereinbarung allerseits passender Termine äußerst schwierig werden würde. Es sei davon auszugehen, dass es den Verteidigern bewusst gewesen und sogar darauf angekommen sei, dass durch ihr Verteidigungsverhalten eine zeitnahe neue Terminierung nicht möglich sein würde. Dies entspreche auch der im Vorlagebericht der Staatsanwaltschaft mitgeteilten Aussage der Verteidigung und dem Verteidigungsverhalten des Beschwerdeführers in einem Parallelverfahren vor dem Landgericht München I. Der Beschwerdeführer müsse sich das Verteidigerverhalten zurechnen lassen, da er es sich ersichtlich zu eigen gemacht habe. Wäre der Beschwerdeführer bei seinem angekündigten Verteidigungsverhalten geblieben, hätte die Hauptverhandlung am 20. und 23. Dezember 2019 voraussichtlich durchgeführt und zu einem Abschluss gebracht werden können. Das angekündigte Geständnis hätte durch die geladenen Zeugen und Sachverständigen validiert werden können. Die weitere Tat hätte durch die geladenen Zeugen aufgeklärt werden können.

Die nunmehr erst für Juli 2020 vorgesehene Terminierung beruhe daher nur zu einem geringen Teil auf der Belastungssituation der Jugendkammer, die in der Gesamtbetrachtung nicht ins Gewicht falle. Denn es sei von Seiten der Justizverwaltung nicht zu leisten, dass Richter und Kammern vorgehalten würden, um auf jedes denkbare Verteidigungsverhalten unmittelbar eingehen zu können. Dies würde zu Leerläufen führen und wäre dem Steuerzahler nicht vermittelbar. Es könne von der Kammer auch nicht verlangt werden, ihren Terminkalender für einen solchen Fall freizuhalten, da es anderenfalls in anderen Verfahren zu erheblichen Verzögerungen kommen würde.

Bei der weiteren Terminplanung habe die Kammer die Verhinderungen der Verfahrensbeteiligten zu berücksichtigen gehabt. Die angefragten Verteidiger seien an den freigewordenen Terminen der Kammer im Februar und März 2020 nicht verfügbar gewesen. Eine weitere Abfrage bei dem – ohnehin überwiegend verhinderten – weiteren Verteidiger des Beschwerdeführers sei entbehrlich gewesen, da auch der Sachverständige bis Mai 2020 keine Termine freigehabt habe.

Die eingetretene Verfahrensverzögerung beruhe somit nicht auf vermeidbaren, dem Staat zuzurechnenden Umständen.

Schließlich sei auch nicht zu beanstanden, dass die Kammer keine anderen Maßnahmen zur Verfahrensförderung ergriffen habe. Insbesondere sei die Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung wegen der zeitlichen Beanspruchung der gewählten Verteidiger bislang nicht geboten gewesen, da dies aufgrund der fehlenden zeitlichen Verfügbarkeit des Sachverständigen keine Verfahrensförderung bedeutet hätte. Die jetzige Beauftragung eines anderen Sachverständigen würde ebenfalls keine relevante Beschleunigung zur Folge haben, weil eine erneute Begutachtung ebenfalls erhebliche zeitliche Verzögerungen mit sich brächte. Auch eine – mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter abzuwägende – Zuweisung der Sache gemäß § 21e Abs. 3 GVG an eine andere Kammer hätte angesichts der eingeschränkten zeitlichen Verfügbarkeit von Verteidigern und Sachverständigen sowie der notwendigen Einarbeitungszeit einer anderen Kammer voraussichtlich keine merkliche Beschleunigung bewirkt.

Im Rahmen der weiteren besonderen Haftprüfung (§§ 121, 122 StPO) ordnete das Oberlandesgericht sodann durch Beschluss vom 9. März 2020, den der Beschwerdeführer ebenfalls mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen hat, erneut die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Das Oberlandesgericht nahm hinsichtlich der Wahrung des Beschleunigungsgebots vollumfänglich Bezug auf seine Ausführungen in der Beschwerdeentscheidung vom 31. Januar 2020.

 

 

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 31. Januar 2020 und vom 9. März 2020 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert.

Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit. Zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen.

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu. Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung.

Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei auch unter Berücksichtigung der genannten Aspekte nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein.

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. So ist nach Anklageerhebung bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umfassende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als nur durchschnittlich einem Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.

Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen indes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Sie kann selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen.

Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG ist der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen insofern einer erhöhten Begründungstiefe. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein. Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen hierzu die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen das Vorliegen eines Haftgrundes sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die (Prognose-)Entscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.

Diesen Vorgaben genügen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München nicht. Sie zeigen keine besonderen Umstände auf, die die Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen.

Zwar lässt sich – insbesondere auf Grundlage des Vorbringens des Beschwerdeführers – ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot im Zwischenverfahren nicht erkennen. Vor allem begründet der Beschwerdeführer nicht, wie er zu der Auffassung gelangt, dass bereits spätestens Anfang September 2019 Eröffnungsreife eingetreten gewesen sei, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Ermittlungsergebnisse, insbesondere das psychiatrische Gutachten und die Kontoauswertungen, vorgelegen haben. Darüber hinaus legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwieweit sich eine etwaige Verzögerung im Zwischenverfahren auf die Verfahrensdauer ausgewirkt hat, zumal die Hauptverhandlung bereits einen Monat nach dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses begonnen hat.

Die Ausführungen des Oberlandesgerichts genügen jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen insoweit nicht, als sie die Verzögerungen aufgrund der Aussetzung und Neuterminierung der Hauptverhandlung unter Hinweis auf die Verteidigungsstrategie des Beschwerdeführers als gerechtfertigt ansehen.

Zunächst lassen sich keine Umstände feststellen, aufgrund derer das Landgericht darauf hätte vertrauen können und dürfen, dass der Beschwerdeführer ein umfangreiches Geständnis ablegen würde.

Das Oberlandesgericht begründet nicht, wie es zu der Annahme gelangt, dem Vermerk der Jugendkammer über das Erörterungsgespräch vom 23. Oktober 2019 sei nicht zu entnehmen, dass das angekündigte Geständnis unter dem Vorbehalt der Rücksprache des Verteidigers mit dem Angeklagten und dem weiteren Verteidiger gestanden habe; vielmehr beziehe sich der Vorbehalt „ersichtlich“ auf die angesprochenen Strafrahmen. Insbesondere legt das Oberlandesgericht nicht dar, welchen Sinn ein derart beschränkter Vorbehalt des Verteidigers haben sollte, der sich nicht auch auf die übrigen notwendigen Bestandteile einer Verständigung bezieht, die gerade durch eine synallagmatische Verknüpfung der jeweiligen Handlungsbeiträge gekennzeichnet ist.

Unabhängig vom Erklärungsinhalt und Umfang eines geäußerten Vorbehalts der Rücksprache mit dem Angeklagten ist es ohnehin einfach- und verfassungsrechtlich von vornherein ausgeschlossen, dass sich die Berufsrichter, der Staatsanwalt und einer von zwei Verteidigern in Abwesenheit und ohne Zustimmung des Angeklagten im Zwischenverfahren verbindlich auf eine Verständigung einigen können (§ 257c Abs. 3 Satz 4 StPO). Selbst eine vorbehaltlos im Zwischenverfahren abgeschlossene Verständigung hätte für den Beschwerdeführer keine Bindungswirkung entfaltet.

Schließlich begründet das Oberlandesgericht nicht, auf welche Art und Weise der Beschwerdeführer sich das Verteidigerverhalten (das Verständigungsgespräch und die spätere „Abkehr“ hiervon) „ersichtlich zu eigen gemacht“ habe. Weder den angegriffenen Beschlüssen noch den beigezogenen Akten lässt sich entnehmen, dass sich der Beschwerdeführer bis zum Beginn der Hauptverhandlung in irgendeiner Weise zur angedachten Verteidigungsstrategie geäußert und somit einen – wie auch immer gearteten – Vertrauenstatbestand gesetzt hätte. Auch ist nicht erkennbar, dass die Jugendkammer die Verteidiger nach dem Ergebnis der angekündigten Rücksprache gefragt oder eine bestimmte Erwartung zum Ausdruck gebracht hätte, sodass sich die Verteidigung zu einer – positiven oder negativen – Mitteilung hätte veranlasst sehen müssen.

Darüber hinaus lässt sich nicht nachvollziehen, warum das Landgericht entschieden hat, die Hauptverhandlung sogleich auszusetzen, ohne die geladenen und erschienenen Zeugen und Sachverständigen zu vernehmen und – für den Fall, dass die Beweisaufnahme nicht am 23. und 30. Dezember 2019 hätte abgeschlossen werden können – sich um die Bestimmung weiterer Fortsetzungstermine zu bemühen. Es erschließt sich nicht, warum das – zweifellos zulässige – Verteidigungsverhalten des Beschwerdeführers, lediglich eine der angeklagten Taten zu gestehen und im Übrigen zu schweigen, die geplante Beweisaufnahme insgesamt obsolet gemacht haben könnte. Insbesondere hätte es einer eingehenderen Begründung bedurft, weshalb das Oberlandesgericht meint, ein mögliches Geständnis des Beschwerdeführers hätte durch die geladenen Zeugen und Sachverständigen validiert und die weitere Tat durch die geladenen Zeugen aufgeklärt werden können, demgegenüber aber offenbar annimmt, eine Vernehmung der geladenen und erschienenen Zeugen und Sachverständigen ohne Vorliegen eines umfassenderen Geständnisses wäre von vornherein aussichtslos gewesen. Da die Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO von einer Verständigung ohnehin unberührt bleibt (§ 275c Abs. 1 Satz 2 StPO), hätte sich das Landgericht in jedem Fall darauf einstellen müssen, je nach „Qualität“ des Geständnisses eine mehr oder weniger umfangreiche Beweisaufnahme durchzuführen.

Vor allem aber lassen sich den angefochtenen Beschlüssen keine Gründe entnehmen, die geeignet wären, die Fortdauer der Untersuchungshaft bis zum vorgesehenen Neubeginn der Hauptverhandlung am 16. Juli 2020 verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt wird sich der Beschwerdeführer ein Jahr und fünf Monate in Untersuchungshaft befunden haben. Seit Anklageerhebung wird rund ein Jahr, seit Zulassung der Anklage werden rund acht Monate vergangen sein. Das Oberlandesgericht legt nicht dar, dass ein besonderer Ausnahmefall vorliegt, der diese erhebliche Verfahrensverzögerung zu rechtfertigen vermag.

Das Oberlandesgericht zeigt keine besonderen Umstände auf, die es gerechtfertigt erscheinen ließen, dass sich das Landgericht im Dezember 2019 zu einer Neuterminierung der Hauptverhandlung erst im Juli 2020 in der Lage sah. Diese erst bevorstehende, aber schon jetzt deutlich absehbare Verfahrensverzögerung steht einer bereits eingetretenen Verfahrensverzögerung gleich.

Der Verweis auf die angespannte Terminslage eines der beiden Verteidiger des Beschwerdeführers kann allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Verhinderungen des Verteidigers können angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur insoweit berücksichtigt werden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt. Das Hinausschieben der Hauptverhandlung wegen Terminsschwierigkeiten der Verteidiger ist infolgedessen kein verfahrensimmanenter Umstand, der eine erhebliche Verzögerung – von vorliegend knapp sieben Monaten – rechtfertigen könnte. Die Jugendkammer hat auch nicht erwogen, vor diesem Hintergrund einen Pflichtverteidiger zur Verfahrenssicherung in Betracht zu ziehen. Den Ausführungen des Oberlandesgerichts zu einzelnen Verhinderungen im Februar und März 2020 lassen sich zudem keine Schlussfolgerungen für die – ursprünglich angedachten – Termine am 20. und 28. Januar 2020 und für die weiteren Monate April bis Juni 2020 entnehmen.

Auch der pauschale Hinweis darauf, dass der bislang vorgesehene Sachverständige bis Mai 2020 keine freien Termine habe, ergibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Jugendkammer bei diesem Sachverständigen um eine Verschiebung früherer, weniger eilbedürftiger – und offenbar erst kurzfristig vereinbarter – Termine oder um einen anderen Sachverständigen bemüht hätte. Im Übrigen hätte sich das Oberlandesgericht im diesem Zusammenhang zu einer Auseinandersetzung mit der Frage veranlasst sehen müssen, ob sich die Jugendkammer bereits bei der ursprünglichen Verhandlungsplanung darauf beschränken durfte, einen terminlich besonders beanspruchten Sachverständigen von vornherein nur für zwei Hauptverhandlungstage zu laden.

Schließlich ist nicht erkennbar, dass die Kammer die Möglichkeit erwogen hätte, Hauptverhandlungstermine in anderen Sachen – insbesondere Nicht-Haftsachen – zu verlegen, um ihrerseits den Verfahrensbeteiligten mehr Terminvorschläge unterbreiten zu können.

Vor diesem Hintergrund hätte sich das Oberlandesgericht zu einer näheren Begründung gedrängt sehen müssen, warum die Belastungssituation der Jugendkammer „in der Gesamtbetrachtung nicht ins Gewicht“ falle. Dies gilt erst recht mit Blick darauf, dass die Jugendkammer selbst bereits im Verständigungsgespräch vom 23. Oktober 2019 und vor allem im Vermerk der Vorsitzenden vom 17. Januar 2020 auf ihre terminliche Auslastung deutlich hingewiesen hat. Insoweit hätte es weiterer Darlegungen bedurft, ob es sich dabei um eine kurzfristige, nicht vorhersehbare Belastungssituation handelt, der auch durch Maßnahmen der Justizverwaltung nicht begegnet werden kann, oder ob die Jugendkammer strukturell und dauerhaft überlastet ist.

Der Hinweis des Oberlandesgerichts, von der Justizverwaltung könne nicht gefordert werden, dass Richter und Kammern vorgehalten würden, um auf „jedes denkbare Verteidigungsverhalten unmittelbar eingehen zu können“, da dies zu „Leerläufen“ führen würde und „dem Steuerzahler nicht vermittelbar“ sei, ist nicht geeignet, eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung des Beschleunigungsgebots im Einzelfall zu rechtfertigen. Die Justizverwaltung darf ihre Personalplanung jedenfalls nicht auf die Erwartung stützen, dass auf jede – wirksame – Verständigung tatsächlich ein Geständnis folgt und das Verfahren dann stets auch ohne eine umfangreiche Beweisaufnahme zum Abschluss gebracht werden kann. Wie der Generalbundesanwalt schließlich zutreffend anmerkt, handelt es sich bei der Entscheidung, dass der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung letztlich doch kein umfassendes Geständnis ablegt, nicht um eine außergewöhnliche Verteidigungsstrategie.

Es ist daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 30. Januar 2020 und vom 9. März 2020 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG verletzen. Die Beschlüsse sind unter Zurückverweisung der Sache aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).

Das Oberlandesgericht wird im besonderen Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen erneut über die Haftfortdauer zu entscheiden haben.

Da dem besonderen Haftprüfungsverfahren Vorrang vor der zuvor eingelegten Haftbeschwerde zukommt und diese durch die dort gebotene erneute Entscheidung gegenstandslos wird, hat das Oberlandesgericht im Beschwerdeverfahren nur über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers erneut zu entscheiden.