Recht auf Vergessen im Internet

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 06.11.2019 zum Aktenzeichen 1 BvR 16/13 entschieden, dass Onlinepressearchive verpflichtet sein können, Schutzvorkehrungen gegen die zeitlich unbegrenzte Verbreitung personenbezogener Berichte durch Internetsuchmaschinen zu treffen, da auch bei schweren Straftaten der Täter das Recht hat, online nicht dauerhaft mit vollem Namen gefunden zu werden („Recht auf Vergessen I“).

Aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 83/2019 vom 27.11.2019 ergibt sich:

Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 1982 rechtskräftig wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er 1981 an Bord einer Yacht auf hoher See zwei Menschen erschossen hatte. Über den Fall veröffentlichte „Der Spiegel“ 1982 und 1983 unter Auseinandersetzung mit der Person des namentlich genannten Beschwerdeführers drei Artikel in seiner gedruckten Ausgabe. Seit 1999 stellt die beklagte Spiegel Online GmbH die Berichte in einem Onlinearchiv kostenlos und ohne Zugangsbarrieren zum Abruf bereit. Gibt man den Namen des Beschwerdeführers in einem gängigen Internetsuchportal ein, werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt. Nachdem der 2002 aus der Haft entlassene Beschwerdeführer erstmals im Jahr 2009 Kenntnis von der Online-Veröffentlichung erlangt hatte, erhob er nach erfolgloser Abmahnung Unterlassungsklage mit dem Antrag, es der Beklagten zu untersagen, über die Straftat unter Nennung seines Familiennamens zu berichten.
Der BGH hatte die Klage abgewiesen. Im Streitfall habe das Interesse des Beschwerdeführers am Schutz seiner Persönlichkeit hinter dem von der Beklagten verfolgten Informationsinteresse der Öffentlichkeit und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung zurückzutreten. Die Öffentlichkeit besitze ein anerkennenswertes Interesse daran, sich über vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse wie den Prozess, der untrennbar mit Person und Namen des Beschwerdeführers verbunden sei, anhand unveränderter Originalberichte zu informieren.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Er sei selbst mit seiner Tat nicht wieder ins Licht der Öffentlichkeit getreten und wolle heute davon unbelastet seine Sozialbeziehungen gestalten. Demgegenüber würden Dritte bei Eingabe seines Namens im Rahmen einer Suchmaschinen-Recherche, wie sie heute weithin üblich sei, an erster Stelle auf diese Berichte gelenkt. Dies beeinträchtige ihn in der Entfaltung seiner Persönlichkeit schwerwiegend. Der damalige Mordprozess stelle zwar unbestreitbar ein zeitgeschichtliches Ereignis dar; daraus folge nach so langer Zeit jedoch nicht zwingend ein fortdauerndes öffentliches Interesse an der Nennung seines Namens.

Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben.

Der veröffentlichte Beschluss „Recht auf Vergessen I“, der ergänzt werde durch den Beschluss des BVerfG vom 06.11.2019 (1 BvR 276/17 „Recht auf Vergessen II“), betreffe einen Rechtsstreit, der zwar im Anwendungsbereich des Unionsrechts liege, das aber von den Mitgliedstaaten verschieden ausgestaltet werden könne, so das BVerfG. Deshalb seien die Grundrechte des Grundgesetzes anzuwenden.

Das BVerfG habe zunächst seinen Prüfungsmaßstab im Kontext des Unionsrechts präzisiert. Danach habe es geprüft, wenn Fachrecht unionsrechtlich nicht vollständig vereinheitlicht und in den Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet sei, dessen Auslegung primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, auch wenn daneben gleichzeitig die Unionsgrundrechte gelten. Das beruhe auf der Annahme, dass gestaltungsoffenes Unionsrecht auf eine Vielfalt auch grundrechtlicher Wertungen angelegt sei, und der Vermutung, dass die Anwendung der deutschen Grundrechte das dann nur einen Rahmen bildende Schutzniveau der Unionsgrundrechte mitgewährleiste. Einer ergänzenden Prüfung der Unionsgrundrechte bedürfe es hier nur, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Schutz des Grundgesetzes nicht ausreiche.

In der Sache sei auszuführen, dass sich Schutzansprüche gegenüber der Verbreitung von alten Presseberichten in einem Online-Archiv nach einer Abwägung der sich gegenüberstehenden Grundrechte richten, bei der der Zeit unter den Kommunikationsbedingungen des Internets besonderes Gewicht zukomme („Recht auf Vergessen“). Dabei sei zu berücksichtigen, wieweit dem Verlag Mittel zu Gebote stehen, zum Schutz der Betroffenen auf die Verbreitung der alten Berichte im Internet – insbesondere auf deren Auffindbarkeit durch Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen – Einfluss zu nehmen. Gestützt seien solche Ansprüche in Abgrenzung von dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf die äußerungsrechtlichen Schutzdimensionen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.