In einem richtungsweisenden Urteil hat das Landgericht Hamburg am 9. Mai 2025 entschieden, dass die freie juristische Datenbank openJur nicht für eine fehlerhafte Anonymisierung eines amtlichen Gerichtsbeschlusses haftbar gemacht werden kann. Damit stellte die Pressekammer klar, dass openJur eine journalistische Tätigkeit ausübt – mit weitreichenden Folgen für die datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit automatisierter Informationsplattformen.
Der Fall: Veröffentlichung eines Namens trotz Anonymisierungspflicht
Auslöser des Verfahrens war ein Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin aus dem Jahr 2022. In dem Dokument wurde über finanzielle Schwierigkeiten eines Berliner Rechtsanwalts berichtet, dessen vollständiger Name und Kanzleidaten trotz Anonymisierungspflicht ersichtlich geblieben waren. Der Beschluss wurde aus der amtlichen Landesrechtsprechungsdatenbank automatisiert in die Sammlung von openJur übernommen und war dort fast ein Jahr lang öffentlich zugänglich – bis der betroffene Anwalt den Betreiber auf den Verstoß hinwies. Die Reaktion von openJur folgte prompt: Die Daten wurden innerhalb von 20 Minuten entfernt. Doch der Anwalt klagte – und zwar auf Schadensersatz, Auskunft und Unterlassung.
Die Klage: DSGVO, Schadensersatz und Persönlichkeitsrechte
Konkret machte der Kläger unter anderem Ansprüche auf immateriellen Schadensersatz geltend – gestützt auf Artikel 82 der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), der bei Datenschutzverstößen Entschädigungen vorsieht. Der Anwalt argumentierte, er habe wegen der Veröffentlichung Mandate verloren und sei in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt worden. Zudem verlangte er Auskunft über die Verarbeitung seiner Daten und forderte eine Unterlassungsverfügung, um ähnliche Veröffentlichungen in Zukunft zu verhindern.
Die Pressekammer des Landgerichts Hamburg (Az. 324 O 278/23) wies die Klage in allen Punkten ab. Die Begründung der Richter: Die Tätigkeit von openJur sei als journalistisch zu bewerten – und falle damit unter eine spezielle datenschutzrechtliche Ausnahmevorschrift.
Das Urteil: Schutz der journalistischen Arbeit – auch bei automatisierten Portalen
Das Gericht stützte seine Entscheidung auf Artikel 85 Absatz 2 DSGVO, der den Mitgliedstaaten erlaubt, Ausnahmen von den Datenschutzregeln zuzulassen, wenn dies erforderlich ist, um die Meinungs- und Informationsfreiheit zu gewährleisten. In Deutschland ist dies in § 57 BDSG geregelt: Demnach gelten die allgemeinen Datenschutzpflichten – etwa zu Auskunft, Löschung oder Schadensersatz – nicht für journalistische Datenverarbeitungen, soweit sie dem Zweck der Veröffentlichung dienen.
Obwohl openJur Entscheidungen größtenteils automatisiert übernimmt, sei die Tätigkeit nach Auffassung des Gerichts insgesamt journalistisch geprägt. Denn die Plattform wähle Entscheidungen aus, formuliere redaktionelle Leitsätze, strukturiere die Präsentation und bereite Inhalte auf – typische Merkmale publizistischer Tätigkeit.
Damit griffen weder die allgemeine Haftung aus der DSGVO noch Ansprüche nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 823, 1004 BGB). Der Betreiber habe nicht selbst den Fehler verursacht – vielmehr sei dieser bereits in der amtlichen Quelle enthalten gewesen. Und sobald der Hinweis auf den Verstoß einging, sei „unverzüglich“ reagiert worden. Eine Pflicht zur Vorabkontrolle aller amtlich bereitgestellten Texte bestehe nicht.
Keine Haftung trotz Persönlichkeitsverletzung?
Auch wenn das Gericht einräumte, dass die Veröffentlichung der ungeschwärzten Daten grundsätzlich geeignet sei, das Persönlichkeitsrecht des Klägers zu verletzen, könne dies openJur nicht zugerechnet werden. Vielmehr sei die primäre Verantwortlichkeit bei der Justizbehörde zu suchen, die den Beschluss in fehlerhafter Form veröffentlicht hatte. Die Entscheidung unterstreicht somit, dass Plattformen wie openJur keine inhaltliche Prüfpflicht für staatlich erzeugte Daten trifft – solange keine konkrete Kenntnis eines Problems vorliegt.
Kein Schadensersatz für verspätete Auskunft
Schließlich wies das Gericht auch den Anspruch auf Schadensersatz wegen einer angeblich verzögerten Auskunftserteilung zurück. Zwar habe openJur dem Kläger nicht sofort umfassend auf seine Auskunftsanfrage geantwortet. Ein daraus resultierender „immaterieller Schaden“ sei aber nicht erkennbar – insbesondere, weil die betroffene Veröffentlichung zum Zeitpunkt der Auskunft längst gelöscht war und kein zusätzlicher Kontrollverlust erkennbar sei.
Ein Meilenstein für den offenen Rechtszugang
Das Urteil ist ein starkes Signal für Betreiber von frei zugänglichen juristischen Informationsportalen – und für die Informationsfreiheit im digitalen Zeitalter. Der Hamburger Richterspruch schafft Rechtssicherheit für gemeinnützige Plattformen, die gerichtliche Entscheidungen öffentlich dokumentieren und für Forschung, Lehre und Allgemeinheit aufbereiten. Zugleich grenzt das Gericht ihre Haftung deutlich ab: Die Verantwortung für korrekte Anonymisierung liegt in erster Linie bei der Justiz selbst.
Fazit
Die Entscheidung des Landgerichts Hamburg vom 9. Mai 2025 bringt Klarheit in eine bislang umstrittene Frage: Wie haftet eine freie Rechtsdatenbank für Fehler staatlicher Organe? Antwort: Gar nicht – zumindest solange sie redaktionell arbeitet, keine Kenntnis vom Fehler hatte und nach einem Hinweis sofort reagiert. Für den Kläger bleibt das Urteil ein Rückschlag. Für die rechtliche Landschaft jedoch ist es ein Fortschritt – zugunsten eines offenen, digitalen Rechtszugangs.
Leitsätze des Urteils:
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Der journalistische Charakter einer juristischen Online-Datenbank begründet eine Ausnahme von der DSGVO-Haftung.
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Fehlerhaft anonymisierte Entscheidungen aus amtlichen Quellen begründen keine Haftung des Betreibers, wenn keine eigene Kenntnis bestand.
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Eine verzögerte DSGVO-Auskunft ohne zusätzlichen Kontrollverlust begründet keinen Schadensersatzanspruch.