Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden: Klauseln in Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen, die gevestete (bereits erworbene) virtuelle Optionsrechte bei Ausscheiden eines Arbeitnehmers sofort verfallen lassen, sind unwirksam. Gleiches gilt für Klauseln, die vorsehen, dass diese gevesteten Optionen nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses schneller verfallen, als sie erdient wurden. Im Klartext: Hat ein Mitarbeiter durch seine Betriebszugehörigkeit bereits Ansprüche auf virtuelle Unternehmensanteile erworben, dürfen ihm diese nicht einfach entzogen werden, nur weil er kündigt. Dieses Urteil stärkt die Rechte von Arbeitnehmern und erfordert Anpassungen bei gängigen Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen in Unternehmen. Im Folgenden erläutern wir verständlich den Hintergrund der Entscheidung und geben praktische Tipps für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Hintergrund: Virtuelle Optionen, Vesting und „Bad Leaver“-Klauseln
Viele – vor allem junge – Unternehmen bieten ihren Beschäftigten virtuelle Aktienoptionen an, um sie am künftigen Unternehmenserfolg zu beteiligen und ans Unternehmen zu binden. Diese Optionen berechtigen bei Eintritt bestimmter Ereignisse (z.B. Verkauf der Firma oder Börsengang) zu einer Gewinnauszahlung. Allerdings werden die Rechte meist nicht von Anfang an voll gewährt. Stattdessen müssen sich Mitarbeiter die Optionen „verdienen“ (Vesting): Über einen definierten Zeitraum – oft vier Jahre – werden nach und nach immer mehr Optionen unverfallbar bzw. ausübbar. Zum Beispiel vesten häufig 25 % nach dem ersten Jahr und der Rest anteilig über die folgenden drei Jahre. Nur gevestete Optionen können dann beim „Exit“ wirklich Geld bringen.
Um die langfristige Bindung zu sichern, enthalten solche Programme in der Regel „Leaver“-Klauseln: Sie regeln, was mit den Optionen passiert, wenn das Arbeitsverhältnis vorzeitig endet. Üblich ist die Unterscheidung zwischen Good Leaver und Bad Leaver:
- Good Leaver (Ausscheiden ohne eigenes Verschulden, z.B. wegen Krankheit, Rente, betriebsbedingter Kündigung oder Kündigung aus wichtigem Grund durch den Arbeitnehmer wegen vertragswidrigen Verhaltens des Arbeitgebers) dürfen ihre gevesteten Optionen meist behalten. Unvestete Anteile verfallen in der Regel.
- Bad Leaver (Ausscheiden „selbst verschuldet“, z.B. durch Eigenkündigung ohne besonderen Grund oder verhaltensbedingte Kündigung durch den Arbeitgeber) verlieren häufig alle Optionen – auch bereits gevestete.
Vor allem die Bad-Leaver-Regel führt dazu, dass bei einer Eigenkündigung bislang oft sämtliche bislang erdienten Optionsrechte ersatzlos verfallen. Zusätzlich sieht man häufig Klauseln, die einen sukzessiven Verfall der Optionen nach dem Ausscheiden regeln. Im vom BAG entschiedenen Fall verfielen z.B. bereits erworbene Optionen, wenn der Arbeitnehmer ohne wichtigen Grund selbst kündigte, und zwar sofort und vollständig. Kündigte er nicht selbst, verfielen die Optionsrechte zwar nicht sofort, aber dennoch schrittweise über 24 Monate – also doppelt so schnell, wie sie während der vierjährigen Vesting-Periode entstanden waren. Solche Klauseln standen nun auf dem juristischen Prüfstand.
Das BAG-Urteil vom 19.03.2025 (Az. 10 AZR 67/24) im Überblick
Im entschiedenen Fall hatte ein Arbeitnehmer rund zwei Jahre in einem Startup gearbeitet, an einem virtuellen Mitarbeiterbeteiligungsprogramm teilgenommen und durch seine Betriebszugehörigkeit schon einen Teil der Optionen „gevestet“ (etwa ein Drittel). Er kündigte dann selbst und schied aus, bevor ein Börsengang oder Verkauf der Firma stattfand. Der Arbeitgeber berief sich auf die Vertragsklauseln: Durch die Eigenkündigung seien alle bereits erworbenen Optionsrechte sofort verfallen, sodass der Mitarbeiter im Falle eines späteren „Exits“ leer ausgehen würde. Der Arbeitnehmer hielt diese Verfallregelungen für unwirksam und klagte auf Feststellung, dass seine gevesteten 143,75 Optionsrechte trotz Kündigung weiterhin bestehen.
Das BAG gab dem Arbeitnehmer Recht. Es stufte die Optionsbedingungen als allgemeine Geschäftsbedingungen ein und unterzog sie der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB. Ergebnis: Beide Klauseln benachteiligen den Mitarbeiter unangemessen und sind nichtig. Insbesondere hat der 10. Senat Folgendes klargestellt:
- Gevestete Optionen = Vergütung für geleistete Arbeit: Entgegen der Ansicht vieler Arbeitgeber sind virtuelle Optionsrechte nicht bloß eine Prämie für Betriebstreue oder eine rein spekulative Gewinnchance, sondern stellen eine Gegenleistung für die erbrachte Arbeitsleistung dar. Denn der Mitarbeiter „verdient“ sie sich gerade durch seine Tätigkeit während der Vesting-Phase. Ein eindeutiges Indiz dafür sah das BAG u.a. darin, dass die Vesting-Zeit pausierte, wenn der Arbeitnehmer keinen Lohnanspruch hatte (z.B. während Elternzeit oder Sabbatical). Damit wurde klar: Bereits erarbeitete Vergütungsbestandteile dürfen nicht einfach aberkannt werden, nur weil das Arbeitsverhältnis endet. Dieses Prinzip entspricht dem Grundgedanken des § 611a Abs. 2 BGB, wonach der Arbeitgeber für geleistete Arbeit den vereinbarten Lohn zahlen muss. Die streitige Klausel zum vollständigen Verfall bei Eigenkündigung missachtet diesen Grundsatz und ist daher unwirksam.
- Kein „Strafverlust“ bei Eigenkündigung: Die sofortige Aberkennung aller erworbenen Optionen im Kündigungsfall stellt nach Auffassung des Gerichts eine unangemessene Benachteiligung dar, weil sie das Kündigungsrecht des Arbeitnehmers unzulässig beschränkt. Mitarbeiter würden durch die Aussicht, bereits erarbeiteten Lohn (in Form der Optionsrechte) zu verlieren, faktisch davon abgehalten zu kündigen. Das BAG wertet eine solche Klausel als unverhältnismäßige Kündigungserschwerung. Hinzu kommt: Die Regelung unterschied nicht nach Kündigungsgründen – sie griff also selbst dann, wenn der Arbeitnehmer z.B. wegen schwerwiegender Vertragsverstöße des Arbeitgebers kündigen „musste“. Auch in solchen Fällen hätte er alle Optionsansprüche verloren, was offensichtlich unfair ist. Eine derart pauschale Verfallklausel hält der AGB-Kontrolle nicht stand.
- Beschleunigter Verfall verstößt gegen Treu und Glauben: Auch die zweite Klausel – das sogenannte „De-Vesting“, bei dem bestehende Optionsrechte nach dem Ausscheiden doppelt so schnell entwertet werden – erklärte das BAG für unwirksam. Zwar erkenne das Gericht grundsätzlich an, dass ein gestaffelter Verfall die Tatsache widerspiegelt, dass der Einfluss des Ex-Mitarbeiters auf den Firmenwert mit der Zeit abnimmt. Ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an einer derart beschleunigten Entwertung gebe es jedoch nicht. Mit anderen Worten: Es mag legitim sein, nach dem Ausscheiden einen allmählichen Verfall vorzusehen – aber eben nur im gleichen zeitlichen Verhältnis, in dem die Ansprüche erworben wurden. Die Optionen doppelt so schnell verfallen zu lassen, benachteiligt den ausscheidenden Mitarbeiter unangemessen.
Mit dieser Entscheidung hat das BAG seine bisherige Rechtsprechung ausdrücklich geändert. Noch 2008 hatte es für echte Aktienoptionen angenommen, solche Programme seien primär Anreize für die Zukunft und kein Entgelt für individuelle Arbeitsleistung. Nun stellt das höchste Arbeitsgericht klar: Soweit sich Optionen durch bereits geleistete Arbeit angesammelt haben, sind sie Teil der Vergütung und verdienen arbeitsrechtlichen Schutz.
Konsequenzen und Praxistipps für Arbeitnehmer
Für Arbeitnehmer ist dieses Urteil sehr erfreulich. Es bedeutet konkret: Wenn Sie an einem virtuellen Aktienbeteiligungsprogramm teilnehmen, gehören Ihnen Ihre bereits erdienten Optionsrechte – selbst wenn Sie kündigen. Ihr Arbeitgeber kann Ihnen nicht einfach alle bislang erworbenen Ansprüche nehmen, indem er sich auf eine entsprechende Klausel im Vertrag beruft. Folgende praktische Hinweise sollten Arbeitnehmer beachten:
- Vertragsklauseln genau prüfen: Schauen Sie in Ihre Arbeitsvertrags– oder Beteiligungsbedingungen, ob dort eine Verfallklausel für den Fall der Eigenkündigung steht. Nach der neuen BAG-Entscheidung sind solche Klauseln unwirksam, selbst wenn Sie unterschrieben wurden. Ihr Arbeitgeber darf sich nicht darauf berufen, um Ihnen bereits erarbeitete Optionen abzuerkennen.
- Bei Kündigung Optionsansprüche sichern: Wenn Sie selbst kündigen (oder kürzlich gekündigt haben) und Ihr Arbeitgeber behauptet, Ihre gevesteten Optionen seien verfallen, sollten Sie das nicht einfach hinnehmen. Weisen Sie auf das BAG-Urteil hin und machen Sie deutlich, dass die Ansprüche fortbestehen. Im Zweifel können Sie rechtlichen Rat einholen. Die Chancen stehen gut, dass Sie Ihre bereits erworbenen Optionsrechte behalten dürfen – notfalls gerichtlich feststellen lassen, so wie im entschiedenen Fall.
- „Exit“-Ereignisse im Blick behalten: Solange kein Ausübungsereignis (Börsengang, Verkauf etc.) eintritt, haben die virtuellen Optionen nur “Wartestatus“. Trotzdem sind sie wertvoll: Beim späteren Exit können daraus erhebliche Auszahlungen werden. Behalten Sie daher auch nach dem Ausscheiden im Auge, ob ein solches Ereignis eintritt. Ihre Ansprüche verjähren nicht sofort, da sie erst mit dem Exit fällig würden. Sie können ggf. vorbeugend – wie der Kläger im BAG-Fall – gerichtlich feststellen lassen, dass Ihre Rechte fortbestehen, um auf Nummer sicher zu gehen.
- Ausnahmen beachten: Das BAG hat speziell über Eigenkündigungen entschieden. Bei schweren Verfehlungen des Arbeitnehmers (z.B. verhaltensbedingte Kündigung durch den Arbeitgeber wegen Diebstahls o.ä.) könnte eine vertragliche Bad-Leaver-Regelung unter Umständen anders zu bewerten sein. Hier kommt es auf den Einzelfall und die genaue Vertragsgestaltung an. Doch auch in solchen Fällen gilt: Ein vollständiger Verfall aller erdienten Ansprüche dürfte nur in seltenen Konstellationen gerechtfertigt sein. Arbeitnehmer, die sich einer entsprechenden Klausel gegenübersehen, sollten im Konfliktfall ebenfalls prüfen (lassen), ob diese wirklich wirksam ist.
Konsequenzen und Praxistipps für Arbeitgeber
Unternehmen, die Mitarbeiter mit virtuellen (oder echten) Beteiligungsprogrammen motivieren, müssen ihre Vertragsbedingungen dringend überprüfen und anpassen. Das BAG-Urteil stellt klar: Bereits zeitanteilig erarbeitete Vergütungsbestandteile dürfen nicht durch Klauseln entwertet werden. Dennoch sind mit guter Gestaltung weiterhin rechtssichere Programme möglich. Wir empfehlen Arbeitgebern folgende Schritte:
- Leaver-Klauseln überarbeiten: Pauschale Regelungen, wonach bei jeder Eigenkündigung alle Optionen verfallen, sollten Sie streichen oder entschärfen. Differenzieren Sie genauer nach Austrittsgründen. Beispielsweise kann zwischen unverschuldetem Ausscheiden (Good Leaver) und verschuldetem Ausscheiden (Bad Leaver) unterschieden werden. Unverschuldet ausscheidende Mitarbeiter – etwa bei betriebsbedingter Kündigung oder regulärer Eigenkündigung ohne Vertragsverstöße – sollten ihre bereits erworbenen Optionen behalten dürfen. Lediglich in eng begrenzten Fällen schweren Fehlverhaltens (z.B. strafbare Handlungen zulasten des Unternehmens) könnte ein Verfall aller Ansprüche überhaupt in Betracht kommen. Hier ist äußerste Vorsicht geboten und im Zweifel juristischer Rat einzuholen, um „wasserdichte“ Klauseln zu formulieren.
- Vesting und Verfallsfristen angleichen: Falls Ihr Programm eine nachträgliche Verfallsregel für verbleibende Optionen vorsieht, gestalten Sie diese maßvoll und proportional. Insbesondere sollte der Verfallzeitraum nicht kürzer sein als der ursprüngliche Vesting-Zeitraum. Ein lineares „Abschmelzen“ der Optionen im gleichen Takt, in dem sie erworben wurden, erscheint eher zulässig als eine beschleunigte Entwertung. Beispiel: Wenn Optionen über vier Jahre vesten, könnte man vorsehen, dass sie nach dem Ausscheiden über ebenfalls vier Jahre (nicht zwei) sukzessive verfallen. So wird dem legitimen Interesse Rechnung getragen, dass ein Ex-Mitarbeiter Jahre später nicht in vollem Umfang vom Unternehmenserfolg profitiert, ohne noch dafür zu arbeiten – zugleich bleibt aber der Wert der bereits geleisteten Arbeit angemessen gesichert.
- Bestandsschutz für bereits erdiente Anteile: Achten Sie darauf, dass in keinem Fall rückwirkend erdiente Optionen komplett aberkannt werden. Eine zulässige Gestaltung könnte z.B. sein, dem ausscheidenden Mitarbeiter die bis zum Ausscheiden entstandenen Ansprüche zu belassen, eventuell eingefroren auf den Unternehmenswert zum Austrittsdatum (so dass spätere Wertsteigerungen nicht voll weitergegeben werden). Wichtig ist: Ein vollständiger Anspruchsverlust bei vorzeitigem Ausscheiden ist unzulässig. Selbst bei freiwilligem Weggang müssen bereits verdiente Optionen grundsätzlich erhalten bleiben – andernfalls droht die Unwirksamkeit der gesamten Klausel.
- Programme jetzt prüfen und anpassen: Gehen Sie bestehende Mitarbeiterbeteiligungsprogramme umgehend durch und lassen Sie sie juristisch prüfen. Das BAG-Urteil bringt neue Klarheit und einen geänderten Maßstab für solche Vergütungsmodelle. Passen Sie Ihre Verträge und Teilnahmebedingungen so an, dass sie dem Grundsatz gerecht werden, bereits erbrachte Arbeitsleistungen nicht nachträglich zu entwerten. Nur so bleiben Ihre Incentive-Programme rechtssicher und attraktiv. Wer weiterhin mit virtuellen Anteilen arbeiten will, muss die neuen Spielregeln beachten. Andernfalls riskieren Sie, dass Klauseln vor Gericht kassiert werden – mit der Folge, dass ehemalige Mitarbeiter noch Jahre später Ansprüche geltend machen können.
- Risiko durch Ex-Mitarbeiter beachten: Sollte Ihr Unternehmen in der Vergangenheit strenge Verfallklauseln verwendet haben, besteht nun das Risiko, dass ehemalige Beschäftigte Ansprüche erheben. Das BAG hat den Weg bereitet, dass vermeintlich verfallene Optionen doch noch eingefordert werden können. Bei geplanten Transaktionen (z.B. Unternehmensverkauf oder Investoreneinstieg) ist dieses Thema ebenfalls relevant: Käufer und Investoren werden genau prüfen, ob Ex-Mitarbeiter noch Beteiligungsansprüche haben könnten. Es empfiehlt sich, proaktiv Lösungen zu suchen – etwa Vergleiche mit ehemals begünstigten Mitarbeitern – um Rechtssicherheit zu schaffen.
Die BAG-Entscheidung vom 19.03.2025 stärkt Arbeitnehmerrechte in langfristigen Bonus- und Beteiligungsprogrammen deutlich. Virtuelle Aktienoptionen sind nicht mehr nur „Nettigkeiten“ des Arbeitgebers, sondern werden als Teil des Lohnes betrachtet. Arbeitgeber müssen gewährte Vorteile, die ein Mitarbeiter durch seine Arbeit erworben hat, respektieren. Für Unternehmen bedeutet dies einen Anpassungsbedarf, der aber mit sorgfältiger Gestaltung erfüllbar ist. Arbeitnehmer können sich darauf verlassen, dass ihnen bereits erarbeitete Beteiligungen nicht ohne Weiteres entzogen werden dürfen. Beide Seiten – Arbeitgeber wie Arbeitnehmer – sollten sich jetzt mit den neuen Spielregeln vertraut machen und ihre Verträge entsprechend überprüfen. So lassen sich Streitigkeiten vermeiden und die Vorteile virtueller Beteiligungsprogramme weiterhin nutzen – fair und rechtskonform.