Hintergrund des Falls
Ein ausgebildeter Industriekaufmann (Jahrgang 1994) hatte sich im Dezember 2022 auf eine Stelle beworben, die die Arbeitgeberin als „Bürokauffrau, Sekretärin, Assistentin“ in Teilzeit (16 € Stundenlohn) ausgeschrieben hatte. Diese rein weibliche Berufsbezeichnung in der Anzeige war problematisch, da das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vorschreibt, dass Stellenausschreibungen geschlechtsneutral zu formulieren sind. Der männliche Bewerber erhielt eine Absage und vermutete, dass dies an seinem Geschlecht lag. Er fühlte sich wegen des Geschlechts diskriminiert und klagte auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Zunächst verlangte er 1.560 €, erhöhte dann aber die Forderung auf 2.784 € (entspricht rund zwei Monatsgehältern der Stelle). Die Arbeitgeberin bestritt eine Diskriminierung und gab an, die Formulierung der Anzeige sei ein Versehen bzw. dem Jobportal geschuldet gewesen. Außerdem brach sie das Bewerbungsverfahren ohne Einstellung ab und argumentierte, der Kläger habe sich gar nicht ernsthaft für die Stelle interessiert, sondern nur auf eine Entschädigungszahlung aus gewesen (Stichwort „AGG-Hopper“).
Das Arbeitsgericht Köln gab dem Kläger teilweise Recht und sprach ihm rund 1.386,67 € Entschädigung zu. Dieser Betrag entspricht ungefähr einem Bruttomonatsgehalt der angebotenen Teilzeitstelle (20-Stunden-Woche). Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Beide Seiten gingen in Berufung: Der Kläger hielt die Summe für zu niedrig, die Beklagte beharrte darauf, gar nicht diskriminiert zu haben und warf dem Kläger Rechtsmissbrauch vor.
Entscheidung des LAG Köln
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln bestätigte im Berufungsurteil vom 19.12.2024 die erstinstanzliche Entscheidung weitgehend. Dem Kläger stehe zwar dem Grunde nach eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu, jedoch nicht mehr als 1.397,33 € (knapp ein Monatsgehalt der Stelle). Eine höhere Entschädigung lehnte das Gericht ab. Zur Begründung stellte das LAG Köln vor allem auf die Angemessenheit der Entschädigung und die gesetzlichen Grenzen ab:
- Drei Monatsgehälter als Obergrenze: Die vielzitierte Grenze von maximal drei Bruttomonatsgehältern in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG ist kein Automatismus, sondern eine Kappungsgrenze. Das heißt, zunächst ist die im Einzelfall angemessene Entschädigung zu ermitteln – ohne starre Begrenzung. Nur wenn dieser Betrag über drei Monatsentgelte hinausgeht, wird er auf drei Gehälter gedeckelt. Im vorliegenden Fall spielte die Kappung keine Rolle, da die angemessene Entschädigung deutlich darunter lag.
- Bemessung der Entschädigung: Die Höhe der Entschädigung muss alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Insbesondere sind Art und Schwere der Benachteiligung, ihre Dauer und Folgen, der Anlass und das Motiv des Arbeitgebers sowie der Sanktionszweck (Abschreckung) relevant. Die Entschädigung dient dem effektiven Rechtsschutz und soll eine abschreckende Wirkung auf den Arbeitgeber haben – darf aber nicht außer Verhältnis zur Diskriminierung stehen (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Wichtig: Ein Verschulden des Arbeitgebers ist nicht erforderlich (verschuldensunabhängiger Anspruch). Umgekehrt können mildernde Umstände (wie geringes Verschulden) die Entschädigung nicht drücken, da Verschulden eben kein Kriterium für § 15 Abs. 2 AGG ist.
- Geringe Schwere im konkreten Fall: Nach diesen Maßstäben erachtete das Gericht die bereits gezahlte Entschädigung von ca. einem Monatsgehalt für angemessen. Zwar war hier eine Benachteiligung wegen des Geschlechts gegeben (die rein weibliche Stellenausschreibung benachteiligte männliche Bewerber). Jedoch stufte das LAG die Schwere der Diskriminierung als gering ein. Warum? Es handelte sich um eine niedrig vergütete Teilzeitstelle im Sekretariatsbereich; der finanzielle Verlust für den Kläger hielt sich in Grenzen. Zudem hätte die Stelle für den Kläger kaum eine Verbesserung seiner Situation gebracht – er war arbeitslos und hoch verschuldet, aber das Teilzeitgehalt (~1.397 € brutto) hätte daran wenig geändert. Einen konkreten Vermögensschaden oder Karrierenachteil konnte der Kläger nicht darlegen. Auch war die Diskriminierung eher subtil: außer der missglückten Überschrift („Sekretärin“) war der restliche Anzeigentext wohl nicht explizit frauenbevorzugend. Es gab keine Anhaltspunkte für eine gezielte Benachteiligungsabsicht oder ein besonders verwerfliches Verhalten des Arbeitgebers. Kurz: Weder entstand dem Kläger ein greifbarer Schaden, noch lag ein schwerwiegendes Verschulden auf Seiten der Beklagten vor. In solch einer Konstellation genügt eine Entschädigung in Höhe eines Monatsgehalts, um den erlittenen immateriellen Schaden zu kompensieren und den Arbeitgeber zu sensibilisieren.
- Keine starre Mindesthöhe: Der Kläger hatte argumentiert, eine Entschädigung unter 1,5 Monatsgehältern habe keine ausreichende Abschreckungswirkung. Dem erteilte das LAG Köln eine Absage. Zwar hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in früheren Urteilen angedeutet, dass regelmäßig etwa 1,5 Monatsentgelte angemessen sein können, wenn eine Diskriminierung vorliegt. Aber das ist kein Dogma. Vielmehr kommt es auf die Besonderheiten des Einzelfalls an. Im Ergebnis stellte das LAG klar, dass auch eine Entschädigung unter 1,5 Gehältern – hier rund 1 Gehalt – gerechtfertigt sein kann, wenn die Umstände dies als ausreichend erscheinen lassen. Die vom Gesetz genannte Drei-Monats-Grenze ist ausdrücklich keine Untergrenze oder Richtgröße.
- Nebenentscheidungen: Das LAG Köln gewährte dem Kläger übrigens Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Berufungsfrist. Der Kläger hatte aufgrund eines Prozesskostenhilfe-Antrags die formale Berufungsfrist versäumt, was ihm jedoch nicht zum Verhängnis wurde – das Gericht billigte ihm die verspätete Einlegung der Berufung als unverschuldet zu. In der Sache selbst wurde die Berufung des Klägers vollumfänglich zurückgewiesen, das erstinstanzliche Urteil also bestätigt. Eine Revision zum BAG ließ das LAG nicht zu (mangels grundsätzlicher Bedeutung).
Praxishinweise für Arbeitnehmer (Bewerber)
- Diskriminierung bei Stellenausschreibungen erkennen: Werden in Jobanzeigen bestimmte Gruppen ausgeschlossen oder bevorzugt (z. B. durch Formulierungen wie „Bürokauffrau/Sekretärin“ nur in weiblicher Form), kann dies eine unzulässige Diskriminierung nach dem AGG darstellen. Als abgelehnter Bewerber haben Sie in solchen Fällen einen Anspruch auf Entschädigung wegen der erlittenen Benachteiligung, selbst wenn Sie den Job nicht bekommen hätten. Der Anspruch umfasst immateriellen Schaden (vergleichbar mit Schmerzensgeld) und soll den Diskriminierungsverstoß sanktionieren.
- Anspruch zügig geltend machen: Wichtig ist, zügig zu reagieren. Nach § 15 Abs. 4 AGG müssen Sie Ihren Anspruch innerhalb von zwei Monaten schriftlich geltend machen, nachdem Sie von der Diskriminierung erfahren haben (z. B. ab Erhalt der Absage). Anschließend kann Klage beim Arbeitsgericht erhoben werden. Zögern Sie also nicht, bei Verdacht auf Diskriminierung schnell rechtlichen Rat einzuholen.
- Höhe der Entschädigung realistisch einschätzen: Die Entschädigung wird im Einzelfall bemessen und kann je nach Schwere des Verstoßes unterschiedlich hoch ausfallen. Erwarten Sie keine automatischen „Pauschalen“. In normalen Fällen sprechen Gerichte häufig Entschädigungen im Bereich von 1–3 Monatsgehältern des entgangenen Jobs zu. Bei krassen Diskriminierungen (z. B. eindeutige Absagen wegen Hautfarbe, Religion o. ä.) kann der obere Bereich ausgeschöpft werden. Bei geringfügigen oder formalen Verstößen (wie im behandelten Fall) kann aber schon ein Monatsgehalt ausreichend sein. Lassen Sie sich daher im Vorfeld beraten, welcher Rahmen realistisch ist.
- Kein „Lottogewinn“ durch AGG-Klagen: Die Entschädigung soll abschrecken, aber nicht bereichern. Wer diskriminiert wurde, erhält einen Ausgleich für die erlittene Würdeverletzung – reich wird man dadurch nicht. Insbesondere ersetzt die Entschädigung nicht den Verdienst der nicht erhaltenen Stelle (einen solchen Vermögensschaden müsste man gesondert als Schadensersatz nach § 15 Abs. 1 AGG geltend machen, wofür aber ein Verschulden des Arbeitgebers nötig wäre). § 15 Abs. 2 AGG bietet also Schutz vor Diskriminierung, aber kein lukratives Geschäftsmodell.
- Nicht missbräuchlich handeln: Bewerber sollten sich ernsthaft auf Stellen bewerben, die sie auch antreten würden. Wer sich nur bewirbt, um eine Entschädigung abzukassieren, läuft Gefahr, leer auszugehen. Die Arbeitsgerichte haben klargestellt, dass ein solcher Rechtsmissbrauch den Entschädigungsanspruch vereiteln kann. Im September 2024 entschied das BAG, dass einem AGG-Hopper – also jemand, der sich systematisch auf Anzeigen wie „Sekretärin (w/m)“ bewirbt, um Entschädigungen zu fordern – kein Anspruch zusteht, wenn das alleinige Motiv die Bereicherung ist. Fazit für Bewerber: Nutzen Sie Ihre Rechte, aber spielen Sie nicht mit dem Feuer. Authentisches Interesse an der Stelle und ein sauberes Bewerbungsverfahren sind die Grundlage – dann stehen die Chancen gut, bei echter Diskriminierung erfolgreich Entschädigung zu erhalten.
Praxishinweise für Arbeitgeber
- Stellenausschreibungen AGG-konform gestalten: Die beste Vorbeugung gegen Diskriminierungsklagen ist eine diskriminierungsfreie Stellenausschreibung. Verwenden Sie stets geschlechtsneutrale Bezeichnungen bzw. den Zusatz (m/w/d). Begriffe wie „Sekretärin“ allein sind tabu – sie suggerieren, dass nur Frauen erwünscht seien. Solche Formfehler können bereits einen Entschädigungsanspruch auslösen, selbst wenn Sie letztlich niemanden einstellen. Achten Sie auch auf Formulierungen zu Alter, Herkunft, Religion, Behinderung etc., damit Sie alle Bewerber chancengleich ansprechen.
- Auswahlentscheidung dokumentieren: Treffen Sie Personalentscheidungen nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Wenn Sie einen Bewerber ablehnen, sollten sachliche Gründe vorliegen (fehlende Qualifikation, Erfahrung, kulturelle Passung zum Unternehmen ohne Diskriminierung). Dokumentieren Sie diese Kriterien intern. Im Streitfall können Sie so leichter darlegen, dass nicht ein AGG-Merkmal der Grund für die Absage war, sondern legitime Anforderungen. Zwar trägt grundsätzlich der Bewerber die Beweislast für Diskriminierungsindizien – doch wenn etwa eine Formulierung im Stelleninserat bereits ein Indiz liefert, stehen Sie schnell unter Rechtfertigungsdruck. Eine saubere Dokumentation hilft, Missverständnisse auszuräumen.
- Achtung vor „AGG-Hoppern“: Es gibt Fälle, in denen Personen sich seriell auf Stellenausschreibungen bewerben, nur um Entschädigungen einzuklagen. Anzeichen können ungewöhnliche Bewerbungen sein (unzureichende Unterlagen, große Wohnortentfernung, Bewerber passt gar nicht ins Profil) kombiniert mit Kenntnissen des AGG. Seien Sie hier besonders sorgfältig: Eine standardisierte Absage ohne diskriminierende Formulierung ist Pflicht. Ändern Sie ggf. die fehlerhafte Stellenanzeige umgehend, sobald Ihnen der Lapsus auffällt. Rechtsmissbrauch als Einwand ist zwar möglich, aber schwer zu beweisen. Die Hürden hat das BAG hoch gesetzt: Nur wenn Sie darlegen können, dass der Bewerber nie an einer Einstellung interessiert war, sondern ein systematisches Klagegeschäft betreibt, können Sie den Anspruch vereiteln. In der Praxis gelang dies bislang nur in Extremfällen. Tipp: Tauschen Sie sich mit Ihrem Anwalt aus, wenn Ihnen ein verdächtiger Vielkläger begegnet. Und vor allem: Vermeiden Sie Angriffsflächen, indem Sie von Anfang an AGG-konform agieren – dann haben AGG-Hopper keinen Ansatzpunkt.
- Entschädigungshöhe einschätzen: Sollte es dennoch zu einer berechtigten Diskriminierungsbeschwerde kommen, behalten Sie die Verhältnismäßigkeit im Blick. Die Gerichte werden die Entschädigung nach den Umständen staffeln. Ein einfacher Verstoß ohne ernsthafte Folgen führt erfahrungsgemäß zu eher moderaten Beträgen (im aktuellen Fall ein Monatsgehalt). Schwerwiegendere Diskriminierungen oder wiederholte Verstöße ziehen höhere Summen nach sich – bis hin zu dem Cap von drei Monatsgehältern, das jedoch nur in Ausnahmefällen ausgeschöpft wird. Es geht nicht darum, Ihr Unternehmen zu ruinieren, sondern um einen spürbaren Denkzettel. In jedem Fall sollten Sie aus dem Vorfall lernen und zukünftig Diskriminierungen konsequent vermeiden.
Das Urteil des LAG Köln vom 19.12.2024 gibt sowohl Arbeitnehmern als auch Arbeitgebern wichtige Orientierung. Für Bewerber bestätigt es, dass Diskriminierung im Bewerbungsverfahren nicht hinzunehmen ist – selbst subtile Benachteiligungen können einen Entschädigungsanspruch auslösen. Allerdings zeigt der Fall auch, dass die Höhe der Entschädigung maßgeschneidert auf den Einzelfall erfolgt: Geringfügige Verstöße führen zu eher niedrigen Zahlungen, während schwere Diskriminierungen entsprechend höher sanktioniert werden. Für Arbeitgeber ist das eine Mahnung, Stellenausschreibungen und Auswahlprozesse diskriminierungsfrei zu gestalten. Schon eine unbedachte Formulierung wie „Sekretärin“ kann teuer werden. Zugleich dürften Arbeitgeber beruhigt zur Kenntnis nehmen, dass bei kleinen Fehlern nicht gleich der Maximalbetrag fällig wird, sondern die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Insgesamt unterstreicht das Urteil den Grundsatz „Prävention ist der beste Schutz“ – wer von vornherein fair und AGG-konform handelt, muss Entschädigungsrisiken kaum fürchten. Für beide Seiten gilt: Das AGG ist ein scharfes Schwert gegen Diskriminierung, wird von den Gerichten aber mit Augenmaß gehandhabt.